Will man das Wesen seiner Mitmenschen erkennen und verstehen, was selbst Fachleuten nur annähernd gelingt, ist es ergiebiger, sein Augenmerk darauf zu richten, wie der Andere kommuniziert, als darauf, was er explizit kommuniziert. Zumal der Fokuswechsel hilfreich sein kann, wenn es Konflikte im Miteinander gibt.
Es ist ganz ähnlich wie beim Musizieren: Was gespielt und vorgeführt wird, ist nicht immer das Entscheidende; Konzert ist nicht Konzert, selbst wenn dieselben Stücke dargeboten werden. Die Musik, die jemand macht, lässt Unbewusstes mit anklingen. Tiefste Regungen lässt sie erahnen, unterschwellige Motive, unerfüllte Kindheitswünsche etwa, die den kleinen wie den großen Auftritten zugrunde liegen.
In der Art zu musizieren oder sich auf andere Weise mitzuteilen, spiegelt sich das wahre Ich. Wie sich der Mensch in einen Rhythmus hineinbegibt und die Töne anschlägt, gibt viel mehr darüber preis, wer er tatsächlich ist, wovon er träumt, von welchen Sehnsüchten er getrieben ist, wo seine Ängste, Nöte oder Schwächen liegen. Stimmungen und Emotionen, die der Andere in einem selbst zum Oszillieren bringt, gilt es sensibel nachzuspüren, so als lausche man durch Einstimmung den Klängen und Frequenzen einer fremden Seele.
Tauschen Menschen sich einander aus, so stellen sie sich aufeinander ein. Auch dies gleicht dem Zusammenspiel von Musikern, die auf ganz unterschiedlichen, den ihnen eigenen Instrumenten spielen, sich zugleich jedoch harmonisch ins Duett, ins Trio, ins Ensemble einzufügen suchen. So entsteht ein abgestimmter Wechsel, ein gewandtes Miteinander von Akkorden, Melodien und Rhythmen, die mal spannungsvoll und forte, mal gemächlich und piano vor sich hin schwingen.
Verständigungsprobleme sind wie falsche Takte oder Missklänge, die man heraushört. Klingt es disharmonisch aus der Ecke, kann dies sehr verschiedene Gründe haben, beispielsweise:
a) Einer trötet etwa tonangebend mit polierter, glänzender Trompete laut dazwischen, übertönt die anderen, denkt sich, dass er ja ohnehin der Wichtigste, der Virtuose des Orchesters sei. Ihn interessiert der Klingklang um ihn nicht, den er für amateurhaftes Gedudel und Geklimper hält. Und hat wer keine Lust auf sein Trara mehr, fängt der Prahler wild zu trommeln an. Man sei nur neidisch, glaubt er, man verkenne sein Genie, ihm stehe die Solistenrolle zu. Am Ende tritt er von der Bühne, tief gekränkt. Er fühlt sich ungeliebt und wertlos. (Ein narzisstischer Mensch).
b) Am Flügel sitzt wer und verschafft sich immer wieder phasenweise mit dramatisch treibenden Tiraden, wütenden Staccato-Sätzen oder düsteren Moll-Passagen nachdrücklich Gehör. Doch umso mehr dies auf Verwunderung, Ratlosigkeit, sogar Empörung stößt, für manchen das Zusammenspiel bereits beendet ist, verstärkt sich nur die Lautstärke und Dissonanz der theatralisch in die Tastatur gehämmerten Gefühlsausbrüche. Denkt doch dieser Mensch an dem Klavier, man nehme das Getöse gar nicht wahr. So fühlt er sich allein gelassen mit dem Leid, das er als Kind erfuhr, mit all dem Druck und der Zerrissenheit, dem Selbsthass und dem inneren Chaos. (Person mit emotional-instabiler Persönlichkeit).
c) Er spielt das gleiche Instrument wie du, worüber du dich freust, und stimmt auch noch exakt in deine Folge von Akkorden ein, begleitet deine Melodieführung mit einer süßen zweiten Stimme. Voll Verzücken schließt du lauschend deine Augen, fängst zu summen an – worauf er dir dein Instrument entreißt, um es zum eigenen Nutzen zu verwenden oder es, um seiner quälenden Langeweile zu entfliehen, zu zertrümmern. Mitleid ist ihm fremd, so wie er alle tieferen Gefühle nur vermindert wahrnimmt. (Der Psychopath).
d) Ein Anderer will nicht mit einstimmen in die Strophen, ihm gefalle nicht, was allgemein gespielt wird. Lieber geigt er seine eigenen schrillen Töne, die skurril und eigenwillig klingen, komponiert auch gern mal etwas gänzlich Neues, Wundersames. Weil der sonderbare Musikus Befremden bei den Mitspielern hervorruft, weichen sie den schrägen Tönen aus. Und er fühlt sich bestätigt darin, dass man seine Art zu spielen nie verstand und wertschätzte. Um nicht erneut nur immerzu zurückgewiesen und enttäuscht zu werden, sucht er Schutz in einer Bühnenecke, spielt dort einsam nur für sich, im Stillen traurig, grimmig und verletzt. (Ein schizoider Mensch).
e) Es gibt auch solche, die nicht musikalisch sind, wenngleich sie durchaus harmonieren wollen, doch Akkorde und Motive anderer spontan nicht recht erfassen und ins eigene Spiel mit aufzunehmen vermögen. Unbeholfen fügen sie sich in die Lieder ein, wobei sie häufig nicht die Töne treffen und danebenliegen mit der Interpretation der Stücke. Vielmehr interessieren sie die Notationen auf den Notenblättern, die Funktionsweise der Instrumente, deren Technik und Mechanik. Unbeeindruckt von den aufgespielten Melodien, klimpern, fideln, pfeifen, tröten sie in stereotyper Weise ihre altvertrauten Tonfolgen zu gleichförmigen Rhythmen, was die Übrigen, die aus dem Takt geraten, irritiert. (Autisten)
Damit harmonische Musik entsteht und nicht am Ende Ohrenschmerz, ist jeder dazu angehalten, sich zurückzunehmen im Zusammenspiel, sich immer auch ein wenig auf die anderen, ungleichen Musikanten taktvoll einzustimmen.
Frank Erik (Hamburg, 2019)