Die Frage, ob aggressives oder friedliches Verhalten bei einem direkten Aufeinandertreffen oder als allgemeiner Lebenssansatz im Vorteil ist, ist tatsächlich öfter und auf verschiedene Arten gestellt und beantwortet worden.
Galten Durchsetzungskraft und das reinigende Gewitter bei einem emotionalen Ausbruch als schick, ist man im Laufe der Zeit zu der Überzeugung gekommen, dass gewaltfreie Kommunikation und eine emotionale Intelligenz, die in großen Zügen Affektkontrolle bedeutet, vorteilhafter ist. Der Wüterich begibt sich in einen immer stärkeren Strudel von Aggression und Ärger, aus dem er irgendwann selbst nicht mehr herausfindet und mit dem er seinen Beziehungen und obendrein auch noch der eigenen Gesundheit schadet. Aber was ist auf der Stufe davor, was ist mit dem Tier in uns, mit unseren Genen? Wir wollen es rekonstruieren.
Bei den Tieren unterscheidet man Kommentkämpfer und Beschädigungskämpfer. Kommentkämpfer üben sich in eindrucksvollen Droh- und Imponiergesten, kämpfen aber in der Regel nicht, während der Beschädigungskämpfer auf Kampf aus ist.
Auf den ersten Blick sieht es einfach aus: In der direkten Konfrontation siegt der Beschädigungskämpfer, da der Kommentkämpfer nur droht. Aus diesen unterschiedlichen Verhaltensweisen ergeben sich bestimmte Vor- und Nachteile. Der Kommentkämpfer ist durchaus nicht ohne Erfolg und das aus mehreren Gründen. Zum einen ist ja vorher nicht klar, ob der andere ein Komment- oder Beschädigungskämpfer ist. Ein imposantes Tier, das sich laut drohend aufplustert, da können viele potentielle Gegner schon mal auf die Idee kommen, es doch nicht weiter zu provozieren, denn wer weiß, was dann geschieht?
Dadurch, dass Kommentkämpfer bedeutend weniger kämpfen, treten zwei Effekte ein. Erstens, verbrauchen sie weniger Energie als die Beschädigungskämpfer, denn Kämpfen ist hoch anstrengend und zweitens, sind sie seltener verletzt. Dafür hat der gut trainierte Beschädigungskämpfer kaum jemanden zu fürchten, außer bei Verletzungen, die in der Natur verheerend sind.
Aber dennoch überlegte man sich ob eher altruistische oder egoistische Gruppen im Vorteil wären, also jene, die einander helfen und jene, die bis zum Ende konkurrieren.
Spieltheorie
Wickler und Seibt haben diese Ideen dann in ein spieltheoretisches Modell gegossen, indem sie untersuchen wollten, wer auf lange Sicht gewinnt, wenn Beschädigungskämpfer (B) auf Kommentkämpfer (K) treffen. Hier trafen sie folgende Annahmen:
„1. Jeder Kampf soll eine Entscheidung bringen. 2. Wer aufgibt, hat verloren, und der andere wird Sieger. 3. Wer nicht im Kampf getötet wird, hat Gelegenheit zu mehreren Kämpfen. 4. Es bleibt auf die folgenden Kämpfe ohne Auswirkungen, ob einer gewann oder verlor.“[1]
Weiter wurde idealtypisch vereinbart:
„1. B trifft auf B: Der Kampf endet, wenn einer tot oder ernstlich verletzt ist. 2. K trifft auf B. K läuft sogleich davon. Keiner wird verletzt. 3. K trifft auf K. Wer zuerst aufgibt, hat verloren, keiner wird verletzt.“[2]
Wickler und Seibt haben den Kombattanten Punkte zugeordnet: Ein Sieger im Kampf erhält 50 Punkte, der Verlierer 0 Punkte. Wer schwer verletzt wird erhält – 100 Punkte, wer viel Zeit oder Energie vergeudet, – 10 Punkte. Eine Zuordnung, die letztlich zwar willkürlich ist, doch nach einigen Zahlenspielen der Spieltheorie ergibt sich, dass die Beschädigungskämpfer in einer Mischpopulation dem Kommentkämpfer in einem dynamischen Gleichgewichtszustand mit 7 : 5 überlegen sind.[3]
Doch so einfach ist es mit den flotten Rechenspielen schon spieltheoretisch nicht. In der Mischpopulation würde die Überlegenheit der Beschädigungskämpfer dazu führen, dass es in der Folge mehr Beschädigungskämpfer gibt und bei einer größeren Anzahl derselben sinkt ihr Vorteil. Es wird einfach öfter gekämpft und bei Reinpopulationen sieht die Rechnung so aus, dass der Kommentkämpfer überlegen ist, da es bei seinem Verhalten weniger Schäden gibt. Eine Gruppe, allein aus Beschädigungskämpfern wäre eine, die rechnerisch mehr Nachteile bringt als eine reiner Kommentkämpfer, wegen dauernder Kämpfe und einer Vielzahl an Verletzungen,
Mathematik und Verhaltensforschung
- Einfache physikalische Systeme
Der Zusammenhang zwischen mathematischen Größen und Messverfahren ist bekannt, Faustregel: je toter und monokausaler das System, umso leichter ist es mathematisch einzufangen. Die Waage reagiert unmittelbar darauf, wenn man Gewichte hinzufügt oder wegnimmt, der Zusammenhang ist einfach und eindeutig,
- Komplexe und chaotische physikalische Systeme
Schon das Klima, ein weitgehend physikalisches Modell, stellt uns vor größere Schwierigkeiten, weil hier verschiedene Einflussgrößen ineinandergreifen, die hierarchisch gewichtet werden müssen. Je mehr dynamische Einflussgrößen, umso schwieriger die Prognostizierbarkeit.
- Biologische Systeme
Wenn wir es mit biologischen Systemen zu tun haben, sind diese oft so komplex, dass sie, als Gesamtsystem betrachtet, ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, dass sie noch einmal anders aussehen lässt, als tote Systeme. Biologische Systeme sind oft Puffersysteme, das heißt, sie zeigen über eine lange Zeit, auch bei wechselnden äußeren Einflüssen eine relativ hohe Stabilität, die organische Systeme zum Leben brauchen. Das heißt, sie haben einen hohen Toleranzbereich, sind diese Systeme aber einmal überdehnt, sind sie oft irreparabel zerstört.
- Soziales Verhalten
Die Ethologie oder vergleichende Verhaltensforschung untersucht das Verhalten von Tieren und eine der Faustregeln ist, dass tierisches Verhalten bei einigen Arten sehr viel komplexer ist, als man früher dachte und daraus resultiert, dass in einigen Fällen die Unterschiede zwischen den Individuen größer sind, als die Gleichheit der Art. Vor allem aber verhalten sich auf die arttypischen Tiere nicht idealtypisch, so dass die Modellrechnungen über Komment- und Beschädigungskämpfer nicht aufgehen. So stellt Eibl-Eibesfeldt fest:
„Ein Kommentkämpfer beißt ferner regelmäßig zurück, wenn der Angreifer beißt. Mit anderen Worten, er wird regelmäßig zum Beschädigungskämpfer, wenn er auf Beschädigungskämpfer trifft.“[4]
Es gibt also mit anderen Worten keine Gruppe reinster Kommentkämpfer, die immer und sogleich die Flucht ergreifen, die Gruppen gehen eher in einander über. Es gibt weitere Argumente gegen das egozentrische und aggressive Verhalten, denn zum einen sind die Beispiele von Tieren, die die Nachkommen ihrer Konkurrenten töten, eher selten, zum anderen schädigt jedes Individuum, das in einer kleineren Population von Tieren die Nachkommen des anderen tötet, auch den eigenen Gene, denn der Genpool ist vollkommen durchmischt, es werden mit anderen Worten immer eigene Verwandte getötet. Die Entscheidung, ob aggressives oder friedliches Verhalten ein Vorteil ist, kann man also in dem Kontext gar nicht treffen, da so gut wie keine Reinformen vorliegen.
Hier liegen also die Schwierigkeiten und Grenzen, aus einem variablen Verhalten eine idealtypische Rechengröße zu machen, es stimmt ganz einfach nicht. Mögen die Modellrechnungen plausibel sein, die Tiere verhalten sich zum größten Teil anders. Die um 1970 aufgekommene Idee, sowohl von W. D. Hamilton (1969), als auch von R. L. Trivers (1971), wurden dann von E. O. Wilson und vor allem R. Dawkins aufgenommen und gewannen zwischenzeitlich an Ansehen.
2016 jedoch ist der Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, Michael Tomasello, mit diesem Ansatz in wenigen Zeilen fertig:
„Die Verwandtschaftsselektion ist wohl das grundlegendste Problem bei der Evolution der Kooperation. Darwin fragte sich, warum soziale Insekten, etwa Ameisen und Bienen, sich so bereitwillig füreinander aufopfern (bis hin dazu, daß es sogar zeugungsunfähige Helfer gibt). Im Kontext der modernen Genetik lösen Haldane und Hamilton das Problem durch die Feststellung, daß bei sozialen Insekten Individuen, die in der selben sozialen Gruppe leben, mehr Gene miteinander teilen, als die Gruppenmitglieder anderer Tierarten. Indem sie anderen helfen, begünstigen die einzelnen Ameisen und Bienen Kopien ihrer Gene; in gewissem Sinne helfen sie sich selbst. Dawkins (1976) trieb diese Ansicht ins Extrem, indem er die ganze Evolution aus dieser „Genperspektive“ betrachtete.“[5]
Wie tickt der Mensch?
Wenn schon höhere Tiere ein breites Individualverhalten zeigen, als arttypische Gemeinsamkeiten, so gilt das in noch größerem Maße natürlich für uns Menschen. Der Mensch als sehr soziales Wesen ist es eben nicht entweder/oder, sondern ganze Zeit beides: Individuum und soziales Wesen, für sich stehend, in und durch Beziehungen. Was wie ein Widerspruch klingt ist keiner und die besten Anthropologen, Psychologen und Philosophen sind hier weitreichend einer Meinung.
Es ist wahr – aber kontraintuitiv – dass wir uns unser ‚höchstpersönlichstes‘ Inneres erst mit den öffentlich vorhandenen Mitteln der Sprache und der Traditionen erschließen müssen (Wittgenstein) und dann auch noch erst durch die Hinweise anderer unser Ich erkennen (Austin, Habermas), aber wenn wir diese Instanz in uns mal geschaffen haben, sind wird selbstverständlich kompetent in eigener Sache und uns fallen prima facie Berechtigungen zu, wenn wir über uns Auskunft geben und diese können wir anderen nur bei erheblichen Zweifeln an ihrer geistigen Gesundheit absprechen (Brandom). Und in der modernen Psychoanalyse sind psychische Probleme in aller Regel Beziehungsprobleme.
Dennoch können wir auch bei reifem Individualverhalten in Kollektivverhalten zurückfallen, das bezogen auf den Entwicklungsstand der meisten beteiligten Individuen eine Regression darstellt.
- Menschliches Kollektivverhalten
Die Fähigkeit zur Kooperation ist die Bedingung für die Fähigkeit zur Grausamkeit. Kurioserweise bedingen ein paar an sich positive menschliche (und tierische Eigenschaft) die Möglichkeit von Grausamkeiten.
Zum einen, durch ein Anwachsen der sozialen Kompetenz, „denn nur soziable Tiere können sich zu Gangs zusammenschließen und kooperieren, um Feinde auf so unfaire Weise anzugreifen, dass Letztere mit Sicherheit zu Tode kommen“[6], wie uns der Archäologie und Historiker Ian Morris wissen lässt. Zu anderen: Je willensfreier ein Individuum ist, umso freier ist es auch zum Bösen, Grausamen. Im Zuge der Gruppenaggression regrediert dann auch das Individuum, über den Mechanismus eines Zusammenschmelzens der Über-Iche auf das niedrigen Niveau der reinen gut/böse-Urteile findet sich hier ein Kompromiss den alle teilen können, sozusagen, der kleinste gemeinsame, moralische Nenner. In Windeseile ist eine größere Gruppe oder Masse auf dem Niveau von; „Bist du dafür, oder dagegen? Bist du einer von denen, oder einer von uns?“ Ambivalenzen, Ambiguitäten, ein Abwägen, Tore zur Menschlichkeit wirken in diesem Klima sofort verdächtig.
Doch der Mensch ist ja nicht immer und nur ein kollektives Wesen, die heftigen Einflüsse von Massenregressionen sind kein Normalzustand, wir sind auch zu einem Individualverhalten in der Lage und längst nicht jedes Gruppenverhalten ist regressiv, besonders dann nicht, wenn eine Gruppe zusammen an einer konkreten Aufgabe arbeitet.
- Individuelles Verhalten
Die Mischformen, die wir oben im tierischen Verhalten sahen, gibt es auch im Individuum. Ein friedlicher Mensch kann plötzlich umschalten, wenn er oder seine Familie angegriffen werden, zum anderen sind die Fähigkeiten zur Kooperation und Liebe, aber auch zur Aggression bis zum Hass jederzeit in uns allen zu finden. Individuelle, familiäre und gesellschaftliche Grenzen regeln, welches Verhalten gerade stärker zum Ausdruck gebracht wird, doch schon im spieltheoretischem Ideal ist reine Aggression ein Nachteil, verhaltensbiologisch werden hochaggressive Individuen ausgegrenzt oder getötet und der Kitt der Kultur besteht psychoanalytisch darin, seine Impulse kontrollieren und aufschieben zu können.
Anders herum kann auch ein aggressiver Mensch im Laufe der Zeit, durch Erfahrung, zu der Auffassung kommen, dass zu viele Aggressionen sich in vielen Situationen des Lebens nicht lohnen.
Der optimale Egoist …
Wenn wir die Frage: Aggressives oder friedliches Verhalten: Wer gewinnt?, beantworten wollen, so können wir vom aggressiven und egoistischen Ende des Spektrums ausgehend das Idealbild eines optimalen Egoisten skizzieren, der die verschiedenen Eigenschaften seines Menschseins für seine Zwecke radikal zu nutzen weiß.
Wir können uns diesen Menschen als hervorragenden und furchtlosen Kämpfer vorstellen, aber es gibt dabei ein paar Nachteile. Zum einen, wird auch der beste Kämpfer älter und irgendwann abgelöst, zum anderen, kann er auch auf dem Höhepunkt seiner Kraft schon von mehreren Kämpfern problemlos besiegt werden, auch von einem, der bewaffnet ist oder wenn er schläft. Mit anderen Worten, wer immer kämpfen will, muss gerade dann auch kooperieren.
Insofern ist Kooperation auf eigene Rechnung eine gute Option, um sich zu schützen. Wenn man aber selbst nur etwas um des eigenen Vorteils willen tut, so wird man nicht unterstellen und erwarten können, dass andere mit einem aus einem anderen Grund kooperieren. Also muss man sie irgendwie entlohnen, ihnen also etwas zu bieten haben oder sie in irgendeiner Art und Weise gefügig machen. Geld und gute Worte können helfen, aber auch Erpressung, Einschüchterung oder ein elitäres Bewusstsein, indem man dazu gehört.
Im Vorteil ist also derjenige, der ein breites, raffiniertes Verhaltensrepertoire an den Tag legt. Doch man darf sich auch nicht zu sicher fühlen. Man muss die richtig loyalen von den weniger loyalen Anhängern zu unterscheiden wissen. Das wäre eine offensive Variante, die auf die Mechanismen eines Überwachungsstaates hinausläuft, in denen sich dann irgendwann mehrere Geheimdienste gegenseitig überwachen und dann und wann komplett ausgelöscht werden. Da das bei Elitekämpfern nicht immer gut ankommt und einige hochaggressive Indivduen sich an keinerlei Regeln halten, auch nicht an die von extremistischen Gruppen, kommt es hier immer wieder zu Probleme in solchen Organisationen.
Man könnte jedoch auch ein Einzelkämpfer in eigener Sache bleiben. Wer notorisch aggressiv aber geschickt ist, tut gut daran, die anderen Menschen davon zu überzeugen und dann mehr oder weniger gut angepasst immer unterm Radar zu bleiben. Man hält die anderen in der dummen und naiven Überzeugung, dass es etwas wie Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und dergleichen tatsächlich gibt, während man selbst kein Wort davon glaubt und der Überzeugung ist, mit ausreichend Geld oder Druck sei jeder gefügig zu machen.
Denn es ist nicht zu leugnen, das ‚Raubtier‘ lebt besser in einer Herde von Lämmern als von anderen Raubtieren. Also sollte der begabte Egoist fähig sein den Menschen zu erzählen, dass der Mensch ein friedliches und gutes Wesen ist, um sich klammheimlich über deren Doofheit ins Fäustchen zu lachen und die Menschen nach Strich und Faden auszunutzen und für die eigenen Zwecke zu manipulieren. Natürlich ‚weiß‘ der harte, in Teilen empathische (man muss so mitfühlend sein, dass man weiß, wo der andere seinen schwachen Punkt hat, um in optimal manipulieren zu können), intelligente und skrupellose Egoist, dass die Rede vom guten Menschen nur ein Märchen ist. Er erzählt den Menschen jedoch bereitwillig, was sie hören wollen, oder zumindest das, von dem er denkt, dass sie es hören wollen. Doch genau das ist auch sein schwacher Punkt und der optimale Egoist …
… ist ein Widerspruch in sich
Der radikal aggressive Mensch, der rücksichtslos, aber geschickt stets auf die Vergrößerung seiner Vorteile aus ist, muss gar nicht immer andere Menschen schädigen. Er kann sogar mit ihnen in gutem Einklang leben, wenn er dadurch stressfrei erhält, was er möchte. Dabei hat er jedoch keine Hemmungen, einfach irgendwas zu erfinden, auf die Tränendrüse zu drücken, andere zu erpressen oder einzuschüchtern, so sanft oder nachdrücklich, wie es eben gebraucht wird. Ein Vorteil, so scheint es, denn andere haben hier Skrupel.
Dass andere Menschen tatsächlich Skrupel haben, ist aber nur auf den ersten Blick eine Einschränkung. Manche haben den Eindruck, wir seien dressierte Wesen, denen man ihre natürlichen und bei allen Menschen gleichen Triebe aberzogen hat und nur einigen sei es aus bestimmten Gründen gelungen, sich von den gesellschaftlichen Konditionierungen frei zu machen. Ist diese Einstellung haltbar?
Eher nicht. Tatsächlich ist der Menschen ein recht kompliziertes, weil erst einmal widersprüchliches Mischwesen, denn wir sind gleichzeitig extrem aggressive Wesen und extrem kooperativ. Wenn wir in der Lage sind, ein Wertesystem zu verinnerlichen, haben wir die Möglichkeit uns an etwas anderem auszurichten, als einzig und allein an unserem Ego. Aber ist es das nicht ein Nachteil, genau die Dressur, die kritisiert wird? Nur in der Anfangsphase. Unser junges Ich versucht immer wieder auch aus der Gesellschaft auszubrechen, versucht auf der Basis des Handelns, durch Verweigerung und Sturheit die Grenzen auszutesten und in aller Regel sieht es ein, dass, wenn die andere Seite – die Eltern – liebevoll aber konsequent sind, diese am längeren Hebel sitzen. Das macht natürlich wütend, ist aber auch zuverlässig, wie eine Wand, die ebenfalls begrenzt, aber auch sichert.
Etwas anderes ist es, wenn ein Kind auf keinerlei Grenzen trifft oder auf welche die ständig verändert werden, sei es, dass das Kind schon bald die Hosen an hat, was nicht gut ist, oder, was noch schlechter ist, dass die Eltern willkürlich oder sadistisch die Regeln ändern, wie und wann sie gerade Lust dazu haben. Beides verunmöglichst die Verinnerlichung eines Wertsystems, im sadistischen Fall geht noch viel mehr kaputt. Das Ich fällt zurück auf sich selbst, während das andere im Grunde über zwei Optionen verfügt, nämlich den Regeln oder den ichhaften Bedürfnissen zu folgen. Beide stehen am Anfang in einem gewissen Widerspruch zueinander, aber wir können lernen diese beiden Positionen zu integrieren.
Der radikale, aggressive Egoist kann, da er auf sich zurückgeworfen ist, die andere Position und was noch auf ihr aufbaut, aus ihr folgen kann, nicht nachvollziehen. Für ihn ist der andere stets nur ein dressierter Mensch, der sich einfach nicht traut sich zu sich zu bekennen, weil er dumm, feige oder einfach nicht gerissen genug ist. Dass hier Beziehungen, Werte und Möglichkeiten entstehen, die diesen anderen einen Zugang zu ganz anderen Welten ermöglichen, kann dem aggressiven Egoisten nicht klar werden, er hat in diese Welten keinen Einblick. Er kann andere nach schwachen Punkten abscannen, mit deren Hilfe er sie manipulieren kann, aber er kann die Aufrichtigkeit ihrer Intention nicht nachvollziehen.
Die Beschränkung ist ja kein reiner Selbstwert, sondern gleichzeitig ein Raumlassen für andere, zu deren Welt man dann Zutritt bekommt, mit all den Freuden und Leiden die dazu gehören. Man freut sich tatsächlich aufrichtig mit anderen, leidet aber auch mit ihnen, ärgert sich über sie, kann sie idealisieren und lieben, diskutieren, inspirieren und sich inspirieren lassen, während der aggressive Egoist immer nur ein Programm kennt: Andere dominieren zu müssen, sofern er nicht anstrengungslos bekommt, was er will. Über Bande merkt man es ihnen manchmal an. Der ewige Reizhunger soll die innere Leere kompensieren, die Erfahrungen müssen grell und extrem sein, ein Ausgleich der unbewusst versucht Qualität durch Quantität zu ersetzen, weil man zu so vielen Bereichen der anderen keinen Zugang hat.
Der aggressive Egoist besitzt ein Maß an Empathie, um andere manipulieren zu können, aber nicht genug, um tatsächlich nachvollziehen zu können, was man von nicht ausbeutenden Beziehungen hat. Der optimale Egoist müsste sich also mehr als Kompensation verschaffen, nämlich den echten Zugang zur Welt der anderen, die er nicht verstehen kann und daher aus Neid zerstören muss. Indem das Leben dieser anderen als lächerlich und minderwertig entwertet wird, aber auch indem man es tatsächlich sabotiert. Die Angebote der anderen, die auch der radikale Egoist erhält, befriedigen ihn nicht. Er kann sich eben gerade nicht mit anderen freuen und leiden, er will nicht einfach nur geliebt werden, weil auch dies ihm an einem gewissen Punkt nichts mehr bringt, irgendwann nicht einmal mehr anerkannt sein, er will nicht leben, wie die anderen, die Normalen, das würde ihn nicht satt machen. Würde man es hinbekommen, dass er daraus in hinreichendem Maße Befriedigung zieht, könnte dieser Mensch kein optimaler Egoist mehr sein, denn nun wüsste er, dass man aus echten, wechselseitigen Beziehungen Befriedigung für das eigene Leben ziehen kann.
Aggressives oder friedliches Verhalten: Ein Fazit
Fast alle Formen des Lebens verfügen bereits über die Möglichkeiten zur Aggression und Kooperation. Ob und bis wann es sinnvoll ist das eine auf das andere zurückzuführen, darüber mag man streiten, öfter als man denkt, ist es wohl auch hier der Blick, mit dem man in die Welt schaut, der bestimmt, was man sieht.
Über den Wert spieltheoretischer Berechnungen kann man geteilter Meinung sein, je mehr komplexe Wesen und Systeme auf einfache Parameter zurechtgestutzt werden, die sie gar nicht erfüllen, umso fragwürdiger wird der Ansatz.
Für den Menschen wäre ein rein aggressives Verhalten unpassend, da er de facto sehr lange Zeit nach der Geburt allein gar nicht lebensfähig ist und zu aggressives Verhalten wird in menschlichen Gemeinschaften nicht belohnt. Auch in tierischen nicht und eine aggressive Gesamtpopulation würde schon rechnerisch schlecht abschneiden. Aggressive Menschen profitieren am meisten in einer friedlichen Gesellschaft, allerdings fällt ihr Verhalten dort auch stärker auf und man kann eher schlecht die Gesellschaft zu etwas anregen, um davon zu profitieren, was man selbst nicht versteht und dauerhaft einhalten kann.
Aber auch Gesellschaften können friedlicher oder aggressiver sein, wenn die Überzeugung dominiert, dass man seine Mitmenschen primär instrumentalisieren kann und sollte, dass es im Zusammenleben vorrangig um Effektivität und Nützlichkeit geht regiert das aggressive Prinzip, noch deutlicher wird es, wenn man der Überzeugung ist, die Macht regiere über das Argument und daher sei Machtausübung das, worum es eigentlich geht, bis hin zur Idee des Zusammenlebens als andauernder Kampf, in dem die Starken die Schwachen dominieren, was eine faschistische Idee ist.
Der Mensch an sich ist kein Egoist, im Gegenteil, doch es gibt einzelne radikale Egoisten in Gesellschaften und ein breites Kontinuum an Verhaltensweisen bei normalen Menschen, es hängt von der Umgebung ab, welche stärker zum Ausdruck kommen. Überdies gibt es gesellschaftliche Veränderungen, die den Grad von Aggressionen und Kooperartion betreffen. Aggressives oder friedliches Verhalten scheint sich hier immer wieder als dynamisches Gleichgewicht einzustellen.
Quellen:
- [1] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 418
- [2] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 418
- [3] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 418f
- [4] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 420
- [5] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Suhrkamp 2016, S. 25
- [6] Ian Morris, Ian Morris, Krieg: Wozu er gut ist, Campus Verlag 2013, S. 363f