… ist ein Widerspruch in sich
Der radikal aggressive Mensch, der rücksichtslos, aber geschickt stets auf die Vergrößerung seiner Vorteile aus ist, muss gar nicht immer andere Menschen schädigen. Er kann sogar mit ihnen in gutem Einklang leben, wenn er dadurch stressfrei erhält, was er möchte. Dabei hat er jedoch keine Hemmungen, einfach irgendwas zu erfinden, auf die Tränendrüse zu drücken, andere zu erpressen oder einzuschüchtern, so sanft oder nachdrücklich, wie es eben gebraucht wird. Ein Vorteil, so scheint es, denn andere haben hier Skrupel.
Dass andere Menschen tatsächlich Skrupel haben, ist aber nur auf den ersten Blick eine Einschränkung. Manche haben den Eindruck, wir seien dressierte Wesen, denen man ihre natürlichen und bei allen Menschen gleichen Triebe aberzogen hat und nur einigen sei es aus bestimmten Gründen gelungen, sich von den gesellschaftlichen Konditionierungen frei zu machen. Ist diese Einstellung haltbar?
Eher nicht. Tatsächlich ist der Menschen ein recht kompliziertes, weil erst einmal widersprüchliches Mischwesen, denn wir sind gleichzeitig extrem aggressive Wesen und extrem kooperativ. Wenn wir in der Lage sind, ein Wertesystem zu verinnerlichen, haben wir die Möglichkeit uns an etwas anderem auszurichten, als einzig und allein an unserem Ego. Aber ist es das nicht ein Nachteil, genau die Dressur, die kritisiert wird? Nur in der Anfangsphase. Unser junges Ich versucht immer wieder auch aus der Gesellschaft auszubrechen, versucht auf der Basis des Handelns, durch Verweigerung und Sturheit die Grenzen auszutesten und in aller Regel sieht es ein, dass, wenn die andere Seite – die Eltern – liebevoll aber konsequent sind, diese am längeren Hebel sitzen. Das macht natürlich wütend, ist aber auch zuverlässig, wie eine Wand, die ebenfalls begrenzt, aber auch sichert.
Etwas anderes ist es, wenn ein Kind auf keinerlei Grenzen trifft oder auf welche die ständig verändert werden, sei es, dass das Kind schon bald die Hosen an hat, was nicht gut ist, oder, was noch schlechter ist, dass die Eltern willkürlich oder sadistisch die Regeln ändern, wie und wann sie gerade Lust dazu haben. Beides verunmöglichst die Verinnerlichung eines Wertsystems, im sadistischen Fall geht noch viel mehr kaputt. Das Ich fällt zurück auf sich selbst, während das andere im Grunde über zwei Optionen verfügt, nämlich den Regeln oder den ichhaften Bedürfnissen zu folgen. Beide stehen am Anfang in einem gewissen Widerspruch zueinander, aber wir können lernen diese beiden Positionen zu integrieren.
Der radikale, aggressive Egoist kann, da er auf sich zurückgeworfen ist, die andere Position und was noch auf ihr aufbaut, aus ihr folgen kann, nicht nachvollziehen. Für ihn ist der andere stets nur ein dressierter Mensch, der sich einfach nicht traut sich zu sich zu bekennen, weil er dumm, feige oder einfach nicht gerissen genug ist. Dass hier Beziehungen, Werte und Möglichkeiten entstehen, die diesen anderen einen Zugang zu ganz anderen Welten ermöglichen, kann dem aggressiven Egoisten nicht klar werden, er hat in diese Welten keinen Einblick. Er kann andere nach schwachen Punkten abscannen, mit deren Hilfe er sie manipulieren kann, aber er kann die Aufrichtigkeit ihrer Intention nicht nachvollziehen.
Die Beschränkung ist ja kein reiner Selbstwert, sondern gleichzeitig ein Raumlassen für andere, zu deren Welt man dann Zutritt bekommt, mit all den Freuden und Leiden die dazu gehören. Man freut sich tatsächlich aufrichtig mit anderen, leidet aber auch mit ihnen, ärgert sich über sie, kann sie idealisieren und lieben, diskutieren, inspirieren und sich inspirieren lassen, während der aggressive Egoist immer nur ein Programm kennt: Andere dominieren zu müssen, sofern er nicht anstrengungslos bekommt, was er will. Über Bande merkt man es ihnen manchmal an. Der ewige Reizhunger soll die innere Leere kompensieren, die Erfahrungen müssen grell und extrem sein, ein Ausgleich der unbewusst versucht Qualität durch Quantität zu ersetzen, weil man zu so vielen Bereichen der anderen keinen Zugang hat.
Der aggressive Egoist besitzt ein Maß an Empathie, um andere manipulieren zu können, aber nicht genug, um tatsächlich nachvollziehen zu können, was man von nicht ausbeutenden Beziehungen hat. Der optimale Egoist müsste sich also mehr als Kompensation verschaffen, nämlich den echten Zugang zur Welt der anderen, die er nicht verstehen kann und daher aus Neid zerstören muss. Indem das Leben dieser anderen als lächerlich und minderwertig entwertet wird, aber auch indem man es tatsächlich sabotiert. Die Angebote der anderen, die auch der radikale Egoist erhält, befriedigen ihn nicht. Er kann sich eben gerade nicht mit anderen freuen und leiden, er will nicht einfach nur geliebt werden, weil auch dies ihm an einem gewissen Punkt nichts mehr bringt, irgendwann nicht einmal mehr anerkannt sein, er will nicht leben, wie die anderen, die Normalen, das würde ihn nicht satt machen. Würde man es hinbekommen, dass er daraus in hinreichendem Maße Befriedigung zieht, könnte dieser Mensch kein optimaler Egoist mehr sein, denn nun wüsste er, dass man aus echten, wechselseitigen Beziehungen Befriedigung für das eigene Leben ziehen kann.
Aggressives oder friedliches Verhalten: Ein Fazit
Fast alle Formen des Lebens verfügen bereits über die Möglichkeiten zur Aggression und Kooperation. Ob und bis wann es sinnvoll ist das eine auf das andere zurückzuführen, darüber mag man streiten, öfter als man denkt, ist es wohl auch hier der Blick, mit dem man in die Welt schaut, der bestimmt, was man sieht.
Über den Wert spieltheoretischer Berechnungen kann man geteilter Meinung sein, je mehr komplexe Wesen und Systeme auf einfache Parameter zurechtgestutzt werden, die sie gar nicht erfüllen, umso fragwürdiger wird der Ansatz.
Für den Menschen wäre ein rein aggressives Verhalten unpassend, da er de facto sehr lange Zeit nach der Geburt allein gar nicht lebensfähig ist und zu aggressives Verhalten wird in menschlichen Gemeinschaften nicht belohnt. Auch in tierischen nicht und eine aggressive Gesamtpopulation würde schon rechnerisch schlecht abschneiden. Aggressive Menschen profitieren am meisten in einer friedlichen Gesellschaft, allerdings fällt ihr Verhalten dort auch stärker auf und man kann eher schlecht die Gesellschaft zu etwas anregen, um davon zu profitieren, was man selbst nicht versteht und dauerhaft einhalten kann.
Aber auch Gesellschaften können friedlicher oder aggressiver sein, wenn die Überzeugung dominiert, dass man seine Mitmenschen primär instrumentalisieren kann und sollte, dass es im Zusammenleben vorrangig um Effektivität und Nützlichkeit geht regiert das aggressive Prinzip, noch deutlicher wird es, wenn man der Überzeugung ist, die Macht regiere über das Argument und daher sei Machtausübung das, worum es eigentlich geht, bis hin zur Idee des Zusammenlebens als andauernder Kampf, in dem die Starken die Schwachen dominieren, was eine faschistische Idee ist.
Der Mensch an sich ist kein Egoist, im Gegenteil, doch es gibt einzelne radikale Egoisten in Gesellschaften und ein breites Kontinuum an Verhaltensweisen bei normalen Menschen, es hängt von der Umgebung ab, welche stärker zum Ausdruck kommen. Überdies gibt es gesellschaftliche Veränderungen, die den Grad von Aggressionen und Kooperartion betreffen. Aggressives oder friedliches Verhalten scheint sich hier immer wieder als dynamisches Gleichgewicht einzustellen.
Quellen:
- [1] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 418
- [2] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 418
- [3] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 418f
- [4] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Piper, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 1978, S. 420
- [5] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Suhrkamp 2016, S. 25
- [6] Ian Morris, Ian Morris, Krieg: Wozu er gut ist, Campus Verlag 2013, S. 363f