Im letzten Beitrag dieser Serie ging es darum, wie spirituelle Bewältigungsstrategien unser Leben bereichern und welchen Einfluss sie auf unsere psychische Gesundheit haben können. Dieser Artikel geht nun auf die Frage ein, welchen Einfluss Spiritualität auf unsere Kinder haben kann. Es wird von der Spiritualität als Intelligenzform, der sogenannten spirituellen Intelligenz, gesprochen.
Spirituelle Intelligenz: Was ist das?
Der ein oder andere mag vielleicht denken, Intelligenz ist gleich Intelligenz. Jedoch wird heutzutage zwischen verschiedenen Intelligenzformen unterschieden. Genannt sei hier beispielsweise die EQ (Emotionale Intelligenz). Sie spiegelt die Kompetenzen in Bezug auf die eigene und fremde Gefühlswelt wider.
Die Theorie der multiplen Intelligenzen wurde zunächst in den 1980ern vom amerikanischen Kognitions- und Intelligenzforscher Howard Gardner eingeführt. Auf Grundlage neurobiologischer und neuropsychologischer Forschung entwickelte er das Konzept der nebeneinander existierenden vielfachen Intelligenzen, welche nach ihm bei den verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die Begabungen reichen von sprachlicher Intelligenz über musikalische, logisch-mathematische, räumliche, intrapersonale und interpersonale Intelligenzen bis hin zu einer naturalistischen Intelligenz. In seinem Artikel „A Case Against Spiritual Intelligence“ von 2000 spricht er sich jedoch zunächst gegen eine spirituelle Intelligenzform als eigenständige Intelligenz aus, denn phänomenologische Erfahrungen oder die Entwicklung von Tugenden sehe er nicht als intellektuelle Leistungen. Dennoch ist er der Weiterforschung und Diskussion an Spiritualität als eigener Intelligenzform nicht abgeneigt [1].
Gardners Argumenten stehen einige Verfechter entgegen, die für das Anerkennen von spiritueller Intelligenz als eigenständiges Set an mentalen Fähigkeiten argumentieren. Die Vielzahl und Fülle der Argumentationen machen den Diskussionsbedarf und das Potenzial dieses Konstruktes deutlich.
Im Jahr 2000 erschien im „International Journal for Psychology of Religion“ eine Serie von Artikeln, die sich dem Thema widmeten. Unter anderem Robert Emmons (2000) wollte zeigen, dass es sich bei Spiritualität um ein Set von miteinander verbundenen Fähigkeiten handelt. Ziel des Artikels war es, für die Einführung von spiritueller Intelligenz als einer weiteren Intelligenzform nach Gardner zu argumentieren [2].
Kernfähigkeiten spiritueller Intelligenz nach Emmons
Emmons führte folgende fünf Kernfähigkeiten spiritueller Intelligenz ein [3]:
(1) The capacity to transcend the physical and material.
(2) The ability to experience heightened states of consciousness.
Die ersten beiden Kompetenzen betreffen die Fähigkeit, in höhere Bewusstseinszustände eintreten zu können.
(3) The ability to sanctify everyday experience.
Die dritte Komponente zielt darauf ab, alltäglichen Erfahrungen spirituelle Bedeutung zuschreiben zu können. Die Anerkennung des Göttlichen im Alltäglichen ist das zentrale Thema. Beispielsweise kann die Elternschaft als heilige Verantwortung angesehen werden.
(4) The ability to utilize spiritual resources to solve problems.
Unter dem vierten Aspekt ist das spirituelle Coping zu verstehen.
(5) The capacity to be virtuous.
Als letzte Kernfähigkeit benennt Emmons tugendhaftes Verhalten auf einer konstanten Basis auszuüben. Er versteht darunter beispielsweise Vergebung zu zeigen, Dankbarkeit auszudrücken oder Demut und Mitgefühl zu zeigen.
Zum Modell von Emmons gab es viel Kritik und Verbesserungsvorschläge, viele abgeänderte Definitionen wurden vorgeschlagen und bis heute „ausprobiert“. Bis heute ist die Forschung an keinem endgültigen Ergebnis angelangt, doch das bestehende Interesse zeigt die Relevanz des Themas. Die klinische Psychologin Lisa Miller ist sich ganz sicher, dass es sie gibt, die spirituelle Intelligenz, und dass sie von immenser Bedeutung für die Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen ist.
Spirituelle Intelligenz der Kinder
Miller (2014) schreibt, dass Spiritualität eine bisher nicht genutzte Ressource in Bezug auf das Verständnis von Resilienz, Gesundheit und Heilung sei. Miller arbeitet mit anderen Forschungseinrichtungen und ihren Kollegen „an der Entwicklung eines neuen Verständnisses von Spiritualität, psychischer Gesundheit und gesunder Entwicklung.“ [4] Insbesondere spricht sie sich dafür aus, dass das spirituelle Wachstum von Kindern und Jugendlichen gefördert werden sollte. Wenn dieses seit der frühen Kindheit unterstützt wird, dann hilft es Jugendlichen in ihrer Findungsphase mit existenziellen Fragen zurechtzukommen. Die innere Arbeit hilft bei dem „Entwickeln einer eigenen Identität, für emotionale Widerstandsfähigkeit, Charakterbildung, eine sinnbringende Arbeit und gesunde Beziehungen.“ [5] Diese Vorteile wirken sich auf die seelische Gesundheit dieser jungen Menschen aus. Sie schreibt, dass das Risiko von Depressionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Aggression und risikohaftem Verhalten sinkt. Wird die Spiritualität im ersten Lebensjahrzehnt jedoch nicht gefördert, dann verkümmert sie.
Aus diesen Gründen sollte das natürliche, spirituelle Interesse von Kindern unbedingt gefördert werden. Es wäre wünschenswert, dass in Kindergärten und Schulen über die Spiritualität gesprochen wird und sie sich in die Normalität einfügt. Es ist daher unbedingt erstrebenswert, mehr Fachpersonal mit Zusatzqualifikationen (beispielsweise in spiritueller Beratung) zu fördern und/oder dieses Thema fest im Lehrplan zu verankern. Bisher werden solche Angebote, wenn überhaupt, außerschulisch genutzt und meist erst ab dem Jugendalter und dann auch oft religiös gebunden. Es ist jedoch wichtig, dass dieses Thema auch schon im frühkindlichen Alter behandelt wird.