Ein Bandscheibenvorfall im Dezember 1994 bedeutete nicht nur das Ende seiner Sportler-Karriere, sondern zugleich den Anfang eines neuen Lebenskapitels für Christian Schenk. Denn kurz nach dem Trainingsunfall wurde dem Zehnkämpfer erstmals mitgeteilt, dass er ein psychisches Problem habe: Eine Entlastungsdepression diagnostizierte der Arzt. Retrospektiv ist jedoch wahrscheinlicher, dass der Olympiasieger von 1988 schon damals an einer Bipolaren Störung litt.

Bis zu diesem Befund vergingen aber viele weitere Jahre, in denen rasante Achterbahnfahrten seiner Psyche den Inhaber einer Sport-Event-Agentur immer wieder malträtierten. Erst im November 2009, bei einem ersten vierteljährigen Klinikaufenthalt in Berlin, wurde das Krankheitsbild mit drei Wörtern zusammengefasst: Bipolare Affektive Störung (BAS). Doch diese Information wollte Christian Schenk nicht an sich heranlassen – was ihn mit vielen ebenfalls Betroffenen verbindet. Die Selbstdiagnose, an einem Burnout zu leiden, schien ihm plausibler, vor allem aber kompatibler mit den eigenen Ansprüchen und dem Bild, das er von sich hatte bzw. abgeben wollte. Eine chronische Krankheit passte nicht dazu – zumal eine, die Vergangenes infrage stellt und dazu zwingt, der Gegenwart und Zukunft mit neuen Verhaltensmustern zu begegnen.

„Leistungsüberbereitschaft“ nennt der gebürtige Rostocker das, was all seine Aktivitäten bis dahin geprägt hatte: Bereits mit vier Jahren wurde er Turner und der Grundstein für seine sportliche Karriere gelegt; mit 12 wechselte der jüngste Sohn eines erfolgreichen DDR-Hürdenläufers zur Leichtathletik und mit 16 begann er mit dem Zehnkampf. Der Aufwand, den er dafür betrieb, lasse sich schwer beschreiben, der Trainingsplan habe nicht stramm genug sein können, stellt er rückblickend fest und fragt sich heute: „Sind extrem leistungsorientierte Menschen hypoman? Muss man womöglich sogar hypoman sein, um ganz oben mitzuspielen? Hat damals meine Krankheit begonnen?“

Das Credo, besser als andere sein zu wollen, ließ Christian Schenk auch im Job nicht los. Je höher die Hürden waren, desto größer war sein Elan. Und nachdem bereits eine Ehe gescheitert war, wollte er es selbstverständlich in der zweiten perfekt machen und zudem für seine beiden Söhne das Ideal eines Vater sein. Dass sich seine Seele mit extremen Stimmungsschwankungen gegen die allgegenwärtige Überforderung wehrte, versuchte er so lange wie möglich zu ignorieren und dann zu bagatellisieren. Ein Macher wie er würde das schon alles selber in den Griff kriegen, so der Plan.

Doch er ging nicht auf: 2016 hob sich Schenks Leben wieder aus der Kurve und brachte ihn in die Psychiatrie. 2017 folgte der nächste Krankenhausaufenthalt, und 2018 wies er sich – inzwischen an die Ostsee zurückgekehrt – selber in die geschlossene Abteilung des Stralsunder Klinikums ein. Dort siegte endlich auch die Überzeugung, die Bipolare Störung akzeptieren zu müssen und sie künftig nur medikamentös und mit einer geänderten Lebensführung in Schach halten zu können.

In „Riss: Mein Leben zwischen Hymne und Hölle“ gewährt der heute 54-Jährige unverstellte Einblicke in seine vom autoritären Vater geprägte Kindheit und Jugend, in seine Karriere und nicht zuletzt in das System des Leistungssports in der DDR. So gesehen ist die mit Co-Autor Fred Sellin entstandene Autobiografie durchaus – im Jahr 30 nach der Wende – auch ein Stück Zeitgeschichte. Vor allem aber ist sie ein mit schonungsloser Offenheit verfasstes Aufdecken von sportlichen, familiären und beruflichen Siegen und Niederlagen, von Kollisionen zwischen Hoffnungen, Erwartungsdruck und Realität und von den Drohgebärden und der Macht einer lädierten Psyche. Zweifellos hat das Buch etliche Passagen, die – trotz lockerer Schreibe – schockieren und berühren. Bis zur letzten Seite lesenswert ist die Vita dennoch, weil sie Betroffenen Zuversicht gibt, sich mit dem Teufelskreis aus Manien und Depressionen arrangieren zu können. Und weil sie immer wieder den hohen Stellenwert eines aufmerksamen, engagierten Umfelds hervorhebt, das beim Umgang mit Bipolaren oft einen zermürbenden Weg gehen muss. „Da kommen viele an ihre Grenzen, Verständnis zu haben“, weiß auch Christian Schenk.

Sprache: deutsch
Amazon.de-Link: Riss: Mein Leben zwischen Hymne und Hölle
ISBN: 978-3-426-27768-3
Verlag: Droemer
Veröffentlicht: 2018
Preis: 19,99 € / E-Book 7,49 €
256 Seiten

geschrieben von EmmaS