Kinder tauchen in Handy

Digitale und analoge Rollen und Welten sind kaum noch zu trennen. © Capture Queen under cc

Die Identität eines Menschen ist das fundamentale Bild, was er von sich selbst hat: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich aus, was unterscheidet mich von anderen?

Erik Erikson hat sich als Psychoanalytiker diesem Thema wesentlich angenommen und die Zeit für die psychosoziale Bildung der Identität ins jugendliche Alter verlegt. Identität klingt sehr basal, jedoch kann auf den Stufen zu ihrer Ausbildung einiges schief gehen, was sich dann als Identitätsdiffusion niederschlägt, die als diagnostische Grenze für schwere Persönlichkeitsstörungen angesehen wird und bei der man die Frage, wer man ist nicht oder nicht widerspruchsfrei beantworten kann. Das eigene Ich entgleitet einem dann, wie ein nasses Stück Seife in der Dusche.

Damit der Prozess der Ausbildung einer gesunden und widerspruchsfreien Identität gelingt, ist das Individuum auf eine Umwelt angewiesen, die ihm spiegelt, dass er ein wertvoller Mensch ist. Das geschieht weniger dadurch, dass man jemandem mitteilt, dass er liebenswert und wichtig ist, sondern durch den alltäglich Umgang seines Umfeldes unnd mit ihm selbst, den der heranwachsende Mensch von klein auf mitbekommt. Wie ein Schwamm saugt das Kind die 10.000e Eindrücke auf, die für es völlig neu sind. Am Anfang des Lebens in einem Modus der vollständigen Abhängigkeit, in der das Kind erfährt, ob es überhaupt beachtet wird, wenn es schreit, ob seine Bedürfnisse richtig erfasst und befriedigt werden und wie die Art der Zuwendung ist. In dieser sehr wichtigen Phase wird nach Erikson das Urvertrauen ausgebildet, das Grundgefühl, ob man sich in dieser Welt willkommen fühlt. Misslingt dieser Schritt, führt er zum Urmisstrauen, dem konträren Gefühl, dass die Welt ein kalter, feindlicher Ort ist.

Identität ist nicht starr

Definitive Aussagen über die Psyche und ihre Gesundheit haben in der Vergangenheit immer wieder zu viel Leid und Verwirrung geführt, weil etwas, was man annahm, als letzte Wahrheit dargestellt wurde, die Theorie als Gewissheit verpackt wurde. Bei jemandem, der sich für das spannende Thema Psychologie interessiert kommen solche Botschaften aber oft wie ein Richterspruch an, vor allem Aussagen, der Art, dass man an bestimmten Einflüssen, wenn man ihnen ausgesetzt war nun für den Rest seines Lebens nichts mehr ändern kann. Das Urteil scheint gesprochen, der Betroffene ist schuldig, ohne etwas dafür zu können, das Urteil lautet lebenslänglich, Einspruch wird nicht gewährt. Doch so ist es nicht.

Je mehr wir wissen, umso klarer wird, wie wenig wir wissen, umso klarer wird aber zugleich auch, dass wir nicht nichts wissen. Anders formuliert, heißt das, dass die Qualität dessen, was wir wissen, immer besser wird, wir aber gleichzeitig fundamentale Aspekte nicht wissen und auch die Grenzen klarer erkennen. Das gilt auch für die Psyche und das Gehirn. Nahezu alles, was man früher mal als sicher angenommen hat, ist heute, oft nicht zum ersten Mal, über den Haufen geworfen worden. Hirnareale, Phasenlehre, genetische Dispositionen, die vermeintliche Unveränderlichkeit dieses oder jenes Ereignisses, sehr wenig davon hat Bestand, aber viel davon hat das Potential Leid auszulösen, indem man Nächte lang wach liegt, phantasiert und sich quält, durch die scheinbare Gewissheit, dass der Zug bei einem abgefahren ist, weil man mal vom Wickeltisch gefallen ist, mit Mutter psychotisch war oder sonst etwas.

Immer mehr von dem was wir als unveränderlich angesehen haben, wird heute erfolgreich therapiert, gelindert und kann in vielen Fällen nachträglich verändert werden, weil die Psyche variabel ist und immer wieder umgeschrieben wird. Auch beim Urvertrauen ist man unsicher, wie definitiv es wirklich ist. Späte Erfahrungen intensiver Geborgenheit, wie Gipfelerfahrungen, durch meditative Einheitserlebnisse oder Erlebnisse bei der gemeinsamen Arbeit im Thermalwasser, stabile Beziehungen, all das kann die Welt des Einzelnen dramatisch verändern.

Identität wird aus zwei Quellen gespeist

In weiteren Stufen dringt man dann zu dem vor, was sich als Ich-Identität herausbildet: ein kontinuierlicher Prozess, bei dem das, was als Umwelt oder Mitwelt erlebt wird, stets noch mal überarbeitet wird. Man erlebt also nicht die Welt, sondern immer schon vorgefiltert das, was man als Welt erlebt. Dieses Ergebnis wird dann wieder in die Welt projiziert, so dass sich durch den Prozess von Introjektion und Projektion allmählich ein halbwegs stabiler Kern ausbildet, der sich häufig als ein spezifisches Muster der Persönlichkeit zeigt, wie wir es für die Big Five dargestellt haben. Kontinuität und Wandel, das ist es, was uns ausmacht. Zuschreibungen von außen, ihre Verarbeitung im Innen, die später noch einmal neue, reflexive Komponenten ins Spiel bringt. Die Reflexion darüber, ob man mit den zugedachten Rollen zufrieden ist, oder auch die stille Akzeptanz wird dann wieder der Welt angeboten, das sind die beiden Quellen der Identität.

Die Art und Weise unserer Herangehensweise an die Welt und Beziehungen und die Zuschreibungen, die wir erfahren, verdichten sich zu Weltbildern und Selbstbildern, die sowohl quantitativ, als auch qualitativ sind. Quantitativ heißt in dem Zusammenhang, dass wir die Möglichkeit haben verschiedene Rollen einzuüben, Rollen wie: Kind sein, Freund sein, Schwester sein, verantwortlich und verlässlich sein, fleißig und wissbegierig sein und je nach Umgebung werden einige dieser Rollen mehr oder weniger unterstützt oder unbeachtet, in jedem Fall werden sie gespiegelt. Man merkt, welches Verhalten erwünscht und welches unerwünscht ist und je nach Neigung und Talent passen einem dann einige Rollen besser als andere, manche spielt man gerne, andere sind reine Pflichtübungen. Hier breit aufgestellt zu sein, ist gut und das heißt, viele gesellschaftlich anerkannte Rollen in sich zu vereinen und parat zu haben. Gut ist es deshalb, weil zu wenige Rollen problematisch sind, wie wir gleich ausführen.

Ein anderer, wichtiger Punkt ist die Qualität der Rolleninterpretation. Jede soziale Rolle in der Welt bringt bestimmte Anforderungen mit sich. Tochter zu sein, ist etwas anderes, als selbst Mutter zu sein, als Partnerin zu sein oder im Beruf zu stehen und Karriere zu machen. Analoges gilt für die männlichen Rollen oder jene, die beiden Geschlechtern zur Verfügung stehen. Jede Rolle verlangt von uns nur bestimmte Aspekte unseres Selbst zu zeigen. Krankenschwester zu sein ist oder im Baumarkt zu arbeiten, verlangt bestimmte Qualitäten, welche Musik wir gerne hören, oder ob wir gerne kochen, interessiert dabei in aller Regel so wenig. Welche Partei wir wählen und welche sexuellen Vorlieben wir haben, sollte sogar privat bleiben, da solche Informationen oft zu Irritationen führen. Es ist nicht immer authentisch, jedem alles zu erzählen, sondern eher etwas distanzlos bis übergriffig. In der Regel entwickeln die meisten Menschen ein Gefühl dafür, was in einer bestimmten Situation erwartet wird und was nicht.

Auf der anderen Seite gibt Menschen, die in ihren Rollen so weit aufgehen, dass sie sich verbiegen, genauer gesagt, es kommt kein klarer Persönlichkeitskern zum Vorschein. Sicher verhält man sich beim Männerabend oder Stadionbesuch mit Freunden anders als zu Hause, bei der Frau und wieder anders, als auf der Arbeitsstelle. Dennoch sollte in all diesen Situationen ein bestimmter Persönlichkeitskern wieder erkennbar sein, sonst wird es in dem Moment peinlich, wenn die besten Freunde und die Ehefrau zusammen treffen und sich auf einmal ganz andere verhält, als die Freunde oder Frau es sonst kennen. Identität ist also das, was etwas oberhalb der Rollen als unser typisches Sosein wiedererkennbar bleibt.

Identität vs. Opportunismus

Wer sich ganz in seinen Rollen verliert und dabei auf Wiedererkennbarkeit verzichtet, der wird als Opportunist bezeichnet. Opportunisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie jede Rolle spielen und jede Einstellung vertreten können, weil sie sich auf keine so richtig einlassen (können). Paradoxerweise spielt man seine Rolle sogar oft besser, wenn man ein Gefühl dafür hat, wo sie beginnt und endet. Es kann immer übergeordnete Gründe geben, die einen dazu veranlassen, eine Rolle zu verlassen. Diese übergeordnete Gründe sind nur bedingt geregelt, das Individuum ist aufgefordert in diesen Momenten selbst zu entscheiden und nicht erst brav den Dienstschluss abzuwarten oder in welcher anderen Rolle man auch immer steckt.

Die verschiedenen Rollen des Lebens bringen gewisse Widersprüche mit sich, Widersprüche, die sich nie ganz auflösen lassen. Das wird dann peinlich, wenn die Skatbrüder auf die Ehefrau treffen und die Rollen, die man dort jeweils spielt kaum zusammen passen, weil man bei seinen Freunden der Macher ist und zu Hause nichts zu melden hat.