Womöglich ist die Überschrift nicht ganz zutreffend. Zwar werde ich auch beschreiben, wie »anders« es sein kann, einen Menschen mit Asperger-Syndrom zu lieben oder welche Besonderheiten ein Asperger eventuell beim Empfinden von Liebe mit sich bringt, aber nicht in erster Linie. Vielmehr möchte ich die Quintessenz verdeutlichen, von dem, was ich für die Definition von Liebe halte. Ich möchte Gedankenanstöße mit einfließen lassen, weil ich glaube, dass die Liebe nicht nur für Asperger ein Mysterium sein kann.
Definition von Liebe: Warum ich?
Meine Anregungen geschehen zudem aus der Sicht einer Psychologin. Ich habe zeitlebens (vierzig Jahre lang) Menschen beobachtet: deren Konstellationen und Verhalten zueinander, ihre ausgedrückten Kognitionen und Emotionen. Meine Analysen trieb ich fachkundig auf die Spitze, als ich das Studium der Psychologie absolvierte. Eben jene Lehre vom Erleben und Verhalten der Menschen unterstützt mich nun dabei, mein vorläufiges Fazit im Hinblick auf die Liebe zu ziehen. Meine Intention ist es auch, eine Brücke zu schlagen, zwischen den wenig verstandenen Aspergern und ihren Gefühlen (als Betroffene) und dem Rest der Welt (als Psychologin). Tony Attwood, einer der bekanntesten Psychologen im Bereich der Erforschung des Autismusspektrums bei Frauen, inspirierte mich zu dieser Reihe »Aus der Sicht einer Asperger«, welche ich langfristig und in Hinblick auf unterschiedlichste Themenbereiche fortführen werde. Da so einige Asperger Psychologie studieren, ist es Attwoods Anliegen, dass sich diese als eine Art Vermittler verstehen. Jenes will ich gerne versuchen. Zunächst hinsichtlich der Definition von Liebe.
Asperger und die Liebe

Liebe wird wieder bunter. In vielerlei Hinsicht. © karen H. nickname.{ pooh} under cc
Die deutsche Sprache beinhaltet sehr feine Abstufungen. Diese in Bezug auf die Liebe verstehen zu lernen, gelingt vielen Aspergern nicht zur Gänze. Vermutlich, weil Liebe eben nicht Eins-zu-Eins verstehbar ist. Natürlich haben Asperger Gefühle, aber es fällt ihnen schwerer, diese einzuordnen. Es ist so, als ob die Antenne nach innen nicht richtig funktioniert. So manche Gefühle scheinen Asperger wesentlich intensiver zu erleben, Enttäuschung und Wut zum Beispiel. Einige psychologische Ansätze gehen davon aus, dass der starke Hang zur Analytik bei Aspergern im Grunde durch innere und äußere Überreizung kommt. Viele Asperger sind hochsensibel, das heißt, sie nehmen Geräusche, Farben usw. viel intensiver wahr. Geht man nun davon aus, dass auch die inneren Reize (Gefühle, Sorgen etc.) von Aspergern stärker fokussiert werden, könnte eine »Deckelung« dieser Gefühle und der stark ausgeprägte Pragmatismus bei Aspergern die Folge sein. Eine Art Selbstschutz des Organismus, wenn man so will. Ein immer währender Zirkel von Overloads, Shutdowns und Meltdowns, quasi Überreizung und »Schotten dicht machen«.
Doch zurück zur Liebe.
Ein Wortstamm, drei Bedeutungen: Was zur Hölle …?!
Schon immer habe ich mich gefragt, warum Menschen beinahe jeden und alles lieb haben (überspitzt gesagt), aber um diese drei Worte (»Ich liebe dich«) ein solches Gewese veranstalten. Verliebt sein, liegt irgendwo dazwischen. Ist man verliebt, wagt man sich langsam an den anderen heran. So verstehe ich das. Was ich dagegen nicht nachvollziehen kann, ist die Selbstverständlichkeit, mit der man das eine sagt, und demgegenüber die Scheu, mit welcher man das andere neigt zu verschweigen. »Ich hab dich lieb«, »ich bin verliebt in dich«, »ich liebe dich«, bei allen drei Wortverbindungen handelt es sich um ein und denselben Wortstamm, dennoch sind die Bedeutungsunterschiede enorm und wir lassen es zu, dass diese von Angst bestimmt werden.
Verliebt sein oder Magenverstimmung?
Im Laufe meines Lebens habe ich so manches Mal geglaubt, von einer Magenverstimmung heimgesucht worden zu sein. Flaues Gefühl, leichtes Unwohlsein. Erst als weitere Symptome ausblieben und ich raumzeitliche Zusammenhänge zu einer bestimmten Person feststellen konnte, kam mir der Gedanke, verliebt zu sein. Inzwischen weiß ich, wenn ich verliebt bin, bin ich in erster Linie aufgewühlt. Und mit der Häufigkeit der Kontakte zu der betreffenden Person bekomme ich trockene Haut. Aus dem einfachen Grund, weil ich häufiger heiß baden gehen muss, um meine Ordnung im Kopf wiederherzustellen. Heiß baden gehen, wird übrigens von so einigen Aspergern gern genutzt, um wieder runterzukommen.
Da Asperger zumeist eher kognitiv gesteuert agieren, wage ich die Behauptung, dass das starke Empfinden von Verliebtheit, wie neurotypische Menschen es besitzen, bei Aspergern nicht in der Länge vonstatten geht. Was nicht heißt, dass die Intensität bei der nächsten Begegnung mit dem/der Angebeteten wieder aufflammen kann. Ich selbst halte den menschlichen Organismus für ein schlüssig arbeitendes, effizientes System, welches im Normalfall alle nötigen Prozesse der Selbstregulation vornimmt, um Funktionalität zu gewährleisten. Bei recht pragmatischen Menschen wird vermutlich nach einer Phase emotionalen Ausnahmezustands (Schmetterlinge & Co.) die Alltagsregulation recht zügig erfolgen. Man kann dies bemitleidenswert oder vorteilhaft finden. Doch bedenkt man, welche emotionalen Tumulte durch Begegnungen ausgelöst werden können, kann ein analytischerer Blick auf die Liebe nicht schaden.
Liebe: Wie lange dauert das an?

Threesome gefällig? Die Ehe zwischen Treuedefinition und Polyamorie. © Christine Rondeau under cc
Einerseits träumen wir von lebenslanger romantischer Liebe. Andererseits lehrt uns die Realität allzu oft umtriebige Gelüste, die häufig die intensivsten Gefühle mit sich bringen. Doch wie lange fühlen die Meisten den Zustand von Liebe eigentlich – in einer Partnerschaft zum Beispiel? Fühlt man Liebe die gesamte Zeit, immer, wenn man an den anderen denkt? (Wenigstens so lange kein Streit im Raum steht.) Oder bezieht sich Liebe gewöhnlich nur auf bestimmte Situationen beziehungsweise Stimmungen, in denen man empfindet, wie man empfindet, und dies zum Ausdruck bringt? Die Literatur lässt vermuten: Liebe drückt Beständigkeit aus. Liebe wirkt auf uns wie ein Happy End. Demnach ein andauerndes Gefühl. Eine Art Gewissheit. Eine tiefe Wärme, die man spürt, wenn man an den anderen denkt, die einem Wohlgefühl, Selbstsicherheit und innere Ruhe verleiht. Aber bedeutet Liebe für jeden dasselbe?
Kulturell bekommen wir ein Bild vermittelt, wie Liebe aussehen soll. Diese Erwartungen und Stereotype in Bezug auf Liebe und Treue versuchen wir und der Partner zu erfüllen. Betrachte ich demgegenüber die gescheiterten Ehen und Beziehungen von Menschen, scheint es mir eher so, dass keiner weiß, wie es wirklich läuft. Ich glaube, dass jeder für sich Liebe anders definiert.
Treue: ein (über)flüssiges Konstrukt?
Ich verstehe grundsätzlich, worum es bei der Treue geht. Dennoch ist sie für mich nur bedingt nachvollziehbar. Das war zeitlebens so. Spätestens seit Freud wissen wir, dass der Sexualtrieb einer der stärksten (An-)Triebe des Menschen ist. Da ich niemandem verwehre, ohne meine Gegenwart zu essen oder zu trinken … Nun ja, ich denke, es wird deutlich, worauf ich hinaus will. Die Scheidungs- und Fremdgehstatistiken genauso wie die zunehmend beklagte Einsamkeit in der Gesellschaft scheinen meine gelöste Ansicht in Bezug auf Partnerschaften zu untermauern. Ich glaube, dass viele Partner sich trotz eines Seitensprungs/einer Affäre/einer wie auch immer gearteten Außenbeziehung lieben. Gleichzeitig stirbt durch die Liebe nicht das Begehren für andere. So ehrlich sollte man sein.
Oft führt die moralische Überformung, welche ein jeder von uns durchschritten hat, zu einer solchen Verletztheit und dem Drang, nach einem Betrug entscheidende Konsequenzen zu ziehen. Viele glauben, sie könnten eine solche Eifersucht nicht aushalten. Aber oft ist dies auch eine Frage von In-sich-ruhen. Manche glauben sogar, nach einem Seitensprung bei dem Partner zu bleiben, sei ein Zeichen von Schwäche. Meiner Meinung nach kann ebenso das Gegenteil der Fall sein: Es ist ein Zeichen von Stärke.
Seitensprung: ich ja, der andere …?
Einen Seitensprung mit Erlaubnis vom Partner und ohne Reue vollführen zu können, würden so einige begrüßen. Fragt man dagegen, wie sie es finden würden, dem Partner diese Freiheit ebenfalls zuzugestehen, werden die Antworten zögerlicher. Ein Seitensprung hat immer auch mit Egoismus zu tun. Diesen zu beichten, um sein Gewissen zu erleichtern – Achtung, jetzt wird es provokant! -, ein Stückweit auch. Eine mögliche Konsequenz daraus wäre, Absprachen für zukünftige außereheliche Kontakte zu treffen. Selbstverständlich muss dies auf Augenhöhe geschehen und für beide Partner in gleichberechtigter Hinsicht. Kommunikation sowie gegebenenfalls auch vereinbarte Nichtkommunikation über bestimmte Themenbereiche sind enorm wichtig in einem offenen Beziehungsmodell beziehungsweise in der Polyamorie, damit die innige Vertrautheit erhalten bleibt.
Offene Partnerschaft als Lösung?

Raus aus der Seitensprung-Schmuddelecke, rein in die weißen Bettlaken aus Unabhängigkeit und Respekt. © Brent Moore under cc
Man könnte einigen Aspergern, die eine verschiedenartig gestaltete Offenheit in der Partnerschaft bevorzugen, unterstellen, dass sie dies nur tun, weil sie selbst schlecht lügen können. Vielleicht auch, weil jedwede Enge und Endlichkeit sie von Kindheit an in Panik versetzt. Sicherlich könnte zudem gemutmaßt werden, dass vielen Aspergern Emotionalität sowieso häufiger unangenehm ist. Aber was an und für sich viel wichtiger ist: Wieso geht der bisherige gesamtgesellschaftliche Konsens davon aus, Liebe und emotionale Verbundenheit könnten eine solche Freiheit nicht aushalten?
Wenn man miteinander ehelich verbunden ist, sich in seinem Selbst und dem Wir unterstützt, sich liebt und respektiert, gemeinsam Kinder großzieht, sich einen Hausstand aufbaut, eine Seelenverwandtschaft hat, eine Freundschaft hat, eine Familie ist … wäre es unklug, all jenes wegzuwerfen, nur weil man mal eben umtriebig war oder sich außerhäuslich verknallt hat. Sich auf der anderen Seite, beim Eintreten in die Ehe, den Wunsch nach sexueller/emotionaler Unabhängigkeit und Freiheit auf Lebenszeit zu versagen, wirkt ebenfalls unangemessen. Eine gewisse Exklusivität auf die partnerschaftliche Seele besteht zuverlässig, solange die Liebe fortlebt. Mehr noch: Paare, welche eine offene Beziehung bevorzugen, betonen, wie sehr das respektvolle Miteinander und die intime Verbundenheit durch ihr Beziehungsmodell gestärkt wurden. Freiheit und Liebe scheinen mir mehr miteinander vereinbar zu sein, als wir bisher angenommen haben. Innere Stärke und Ruhe sind dafür erforderlich, aber diese tragen wir alle in uns. Patchworkfamilien sowie polyamore Beziehungsgeflechte sind Vorreiter auf dem Pfad (nicht zuletzt auch zum Wohle der eventuell vorhandenen gemeinsamen Kinder).
Bedingungslose Liebe und Akzeptanz
Wie zuvor erwähnt: Viele Asperger leben eine Beziehung mit Abstand. Weil sie selbst ausreichend Ruhe benötigen. Andere bevorzugen offene Beziehungsmodelle, weil sie Unverbindlichkeit schätzen. Für wieder andere eignet es sich zum Beispiel, in getrennten Wohnungen zu leben oder ein Zimmer der Ruhe zu haben, weil sie zu viel Nähe scheuen. Und einige haben überhaupt keine länger anhaltenden Partnerschaften, ihnen genügen hin und wieder vorübergehende Kontakte. Auf der anderen Seite haben gerade Aspergerfrauen oftmals eine Familie. Sie gelten zumeist – aufgrund ihrer eigenen Geschichte – als unkonventionelle Mütter.
Genauso wie für neurotypische Menschen gibt es auch für Asperger nicht den Lebensweg, der sich für alle eignet. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir Nachsicht und Ehrlichkeit untereinander walten lassen. Je nach Gemüt werden Lebensmodelle und Normen unterschiedlich empfunden. Ein für alle übergestülptes, moralisches Korsett wird erst dann abgestreift werden, wenn wir uns selbst und andere nicht mehr für unsere Individualität und Natur verurteilen. Die Definition von Liebe im wortwörtlichen Sinne zu leben, könnte dabei hilfreich sein. Damit einher geht eine Liebe auf Augenhöhe, eine bedingungslose Liebe, bei der man will, dass es dem anderen gut geht. Eine Definition von Liebe, bei der man füreinander Sorge trägt und deren Erleben sich innerhalb der Gefilde bewegt, welche aufrichtig zwischen den Partnern abgesprochen wurden. Denn Vertrauen ist die stillste Form von Mut.
Der nächste Artikel dieser Reihe beschäftigt sich mit der weiblichen Sexualität.