Fragwürdige Verkünder der Wahrheit

Wenn man die Wahrheit erkennt, offenbart sich ein großes, geniales System, denken einige. © valentin.d under cc
Macht und Wahrheit sind in der heutigen Zeit ein Thema, weil beide Bereiche nicht völlig getrennt sind und weil oft nicht zu erkennen ist, wer auf welcher Seite steht. Man kann also das, was bisher geschrieben wurde, so zusammenfassen: Ja, es gibt durchaus Menschen, die nach Macht streben und die daher stets strategisch vorgehen. Die Argwöhnischen liegen also nicht falsch. Auf der anderen Seite darf man sagen: Ja, es gibt durchaus Menschen, die nach Wahrheit und Erkenntnis streben, die authentisch sind und nicht strategisch vorgehen.
Die Wohlmeinenden liegen ebenfalls richtig. Erschwerend kommt noch hinzu, dass beides in den meisten Menschen vorhanden ist. Wir können durchaus strategisch agieren und tun das auch immer wieder mal, wenn wir eine Wohnung mieten, ein Bewerbungsgespräch führen oder ein Date haben, stellen wir unsere besten Eigenschaften heraus. Wir kommen nicht zu spät, mit fettigen Haaren und rülpsen erst mal laut, um besonders authentisch zu wirken, oder sollten uns dann zumindest nicht wundern, wenn wir nicht zum Favoritenkreis zählen. Aber die meisten von uns wissen, wann die Show zu Ende und Aufrichtigkeit gefragt ist. Wenn aus dem Date mehr wird und man dem anderen die Liebe gesteht. Wenn man sagt, dass man sich über einen bestimmten Punkt hinaus nicht verbiegt. Wenn etwas zur Frage der Ehre wird und man sich selbst noch im Spiegel anschauen können möchte. Oder einfach, wenn man privat unter engen Freunden oder im Kreis der Familie ist.
Aber eines ist auch klar: Wenn ich jemanden betrügen oder beeinflussen will, werde ich nicht sagen, dass ich ein Lügner und Manipulateur bin, sondern ich werde mir einen besonders seriösen Anstrich geben. Nicht alles, was sich als aufrichtige Suche nach der Wahrheit ausgibt, ist dies auch. Lügner kann man oft noch enttarnen, doch die besten Lügner sind jene, die ihre Irrtümer selbst glauben. Das ist dann zwar keine Lüge mehr, sondern echte Überzeugung, aber diese heißen Ideologen sind oft die besten Pferde im Stall, denn sie sind von ihrer Sache überzeugt.
Die Liebhaber von Fakten
Hier wird die Luft dünn und die Sache kompliziert. Die Liebhaber von Fakten glauben, die Lösung sei im Grunde ganz einfach. Man bleibt misstrauisch, vor allem dem gegenüber, was man für Gerede hält und interessiert sind einfach stur für die Fakten und Tatsachen, wie die Dinge eben sind. Alles überflüssige Interpretieren und Debattieren streicht man weg und bevorzugt Messbares und empirische Tatsachen. Das Ergebnis ist in aller Regel ein beinharter Szientismus, der all das, was die meisten Menschen im Leben wichtig und an ihm lebenswert finden wegstreicht oder auf physikalische (und manchmal biologische) Tatsachen zurückführen will. Nie ist das bisher gelungen was zu der neuen Ungewissheit geführt hat, die wir kürzlich besprachen.
Es ist ein philosophisch eher schlichtes Weltbild, das dieser Einstellung zugrunde liegt, aber Szientisten anerkennen Argumente in der Regel nicht, sondern halten sie für überflüssiges Gelaber und unterstellen den anderen dabei ebenfalls strategische Absichten und sich vor Fakten zu drücken. Dass Fakten allein gar nichts sagen, sondern immer interpretiert werden müssen, wird dabei verkannt. Aber auch zu dieser Einsicht muss man erst einmal gelangen. Wer sich für die Argumente interessiert, findet sie in Die wissenschaftlich-technische Revolution dargestellt.
Die Liebhaber guter Absichten
Nicht jeder meint es gut, nur weil er es behauptet und davon überzeugt ist. Oft ist es sogar so, dass diejenigen, die von sich glauben, dass sie im Besitz der Wahrheit sind selbst beginnen strategisch zu agieren, damit sie den anderen dahin bekommen, wo er hin soll. Leider ist genau das ein purer Ausdruck von Macht und so reicht es nicht aus, gute Absichten zu haben, denn auch so bleibt dies ein Instrument, an dem man einander – dann zwar wohlmeinend, aber eben dennoch – manipuliert, also in dem Fall liebevoll in die „richtige“ Richtung schiebt.
Nur liegt ein Teil der Schwierigkeit nicht darin, dass man eben doch trickst und nicht mit offenen Karten spielt, sondern, dass der andere nicht immer in der Lage ist, alles zu erfassen und zu bedenken und nachzuvollziehen. Kindern erzählt man nicht immer alles, aber nicht, weil man sie belügen will, sondern, weil man meint – und das wohl zurecht – dass sie nicht alles erfassen können und ihr kindliches Halbwissen und ihre Art mit Informationen umzugehen, sie nur verwirrt. Man geht allerdings davon aus, dass sie das, was man ihnen vorenthält ein paar Jahre später verstehen können und werden.
Immer die Wahrheit zu sagen ist allerdings der Wunsch von Kontrollfreaks, die ein ausgesprochenes Machtspiel spielen und darauf versessen sind, alles vom anderen zu wissen, um gegebenenfalls zur rechen Zeit eingreifen zu können. Pure Machtphantasien. Also sollte man mit der Wahrheit doch zurückhaltender sein? Sie den Kindern und Narren vielleicht nicht zumuten, allen anderen aber doch? In gewisser Weise machen wir das bereits. Ein Problem von Macht und Wahrheit in der heutigen Zeit scheint weniger darin zu liegen, dass so schrecklich viel gelogen wird, sondern es ist einfach so gut wie alles auf dem Markt der Meinungen und Deutungen zu finden. Erstklassiges und übler Schrott, sowie alles dazwischen. Die eigenen Präferenzen bringen es mit sich, dass man genau das als gut und richtig ansieht, was die eigene Meinung stützt und heute findet wirklich jeder irgendwo seine Brüder und Schwestern im Geiste, die das alles ziemlich ähnlich sehen. Und eh man sich versieht, sitzt man wieder in einer Echokammer, die man für „die Welt“ oder „das Volk“ hält, während man von dem was andere meinen immer weniger versteht. Der Feind wird nur noch als die Karikatur aus der eigenen Echokammer wahrgenommen und wenn man meint, genau zu wissen, was er vorhat, ist die Chance nur um so größer, dass man der eigenen projektiven Identifikation erlegen ist.
Gibt es also gute Lügen? Das kann man nicht sagen. Die Idee genau zu wissen, wem zu welcher Zeit was zuzumuten ist, hat so etwas Patriarchales. Der eine große Kenner weiß, wann der rechte Moment gekommen ist. Das muss nicht immer schlecht sein, aber in unserer Zeit gibt es keine Menschen mehr, die noch Einblick in das gesamte Weltwissen haben. Was es geben sollte, ist ein Recht auf Nichtwissen. Es muss kein Vorteil für das Leben sein, wenn man um eine schwere Erbkrankheit weiß. Wahrheit kann auch etwas Verletzendes haben, zumal eine Aussage wie: „Deine neue Frisur sieht unmöglich aus“, eine individuelle Meinung und keine verbindliche Wahrheit ist. Man kann fast alles auch anders sehen und für viele passiert dies in unserer Zeit geradezu verstörend oft.
Problematischer Pluralismus
Eine Kampflinie verläuft heute entlang des Pluralismus. Der Markt der Meinungen und Deutungsangebote ist übervoll, wie wir feststellten und wenn man zu kompliziert wird, wird man schnell weggeklickt. Die neuen Wahrheiten müssen griffig und bekömmlich sein, nichts, worüber man länger nachdenken muss. Der Renner ist immer noch alles auf genau eine Ursache zu reduzieren. Dies ist der Ansatz einiger Verschwörungstheorien, allerdings auch der Ansatz dessen, was die Verschwörungstheoretiker, so unterschiedlich sie im Einzelfall sein mögen, im gemeinsamen Hass verbindet: des Mainstream.
Weitere Teile desselben zeichnen sich dadurch aus, dass man eher simple Weltbilder befeuert, bei denen am Ende das Happy End oder die Auflösung kommt, entweder alle haben sich wieder lieb oder der kluge Experte erklärt, wie das alles wirklich ist. Am Ende gibt es immer genau eine Lösung die richtig ist, so meint man. Mehr und mehr dämmert uns, dass die Wahrheit wohl viel komplexer ist, mindestens dadurch, dass sie sich uns nicht offenbart.
Das Problem an der Sache ist nur: Viele Ursachen zu haben, bringt einen oft auch nicht weiter, denn nun muss man diese gewichten. Was macht uns Menschen denn nun zu dem, was wir sind? Früher hieß es Gene oder Erziehung und es hat sich eingebürgert an eine 80 : 20 Verteilung zugunsten der Gene zu glauben. Heute weiß man, dass die Zahlen nicht stimmen, alles vieles komplexer ist, man Natur und Kultur nicht wirklich trennen kann, dass zur Kultur die bunte Mischung aus Eltern, Peergroup, Medien und Zeitgeist gehören; Bewusstes, Halbbewusstes und Unbewusstes, dass die geographische und klimatische Region ihre Einflüsse hat und dann kommen noch eine Überzeugungen, Reflexionen und Diskussionen dazu, zudem ist biologisch nicht gleich genetisch und so weiter. Kurz: alles hat irgendwie einen Einfluss, nur wie viel im Einzelfall kann man nicht sagen. Das bringt uns allenfalls der Wahrheit näher, dass wir über die Wahrheit nicht all zu viel wissen.
Etwas anderes meint der gesellschaftliche Pluralismus, der propagiert, dass eine Vielfalt der Lebensformen eine Bereicherung ist und der kulturellen Eingleisigkeit vorzuziehen sei. Eine Sichtweise, die über Jahre ein stilles Dogma war, nach der Migration der Jahre 2014 und 2015 aber stark ins Gerede gekommen ist, wobei ein immer breiterer Teil des Gesellschaft sich von den sie vertretenden Volksparteien abgewendet hat, von denen die SPD den Namen bereits nicht mehr verdient und die CDU hart an der Grenze entlang schrappt. Ein starkes Anwachsen der Grünen signalisiert einen gewissen Gegentrend, der zeigt, dass man mit den Volksparteien unzufrieden ist, mit dem Rechtsruck aber ebenfalls.
Die Grünen haben sich den Pluralismus vielleicht am stärksten auf die Fahnen geschrieben, der hat jedoch das Problem etwas überrumpelnd zu sein. Aus der Vielheit der Stimmen werden nämlich all jene ausgeschlossen, denen das Bunte inzwischen zu bunt geworden ist. Auch hier ist man oft bemüht neue Fakten zu schaffen, in dem Ruf, man müsse die Realität anerkennen, wie sie heute eben ist. Diese Realität ist aber nicht schicksalhaft über uns gekommen, sondern zum Teil so gemacht worden und das größte Problem hat folgende Haltung: