Die perfekte Work-Life-Balance
Wer meint, dass es das Nonplusultra sei, wenn man beruflichen Erfolg hat, der hat ein Problem, wenn der Erfolg sich nicht so wie gedacht und geplant einstellt. Eine Reaktion darauf wäre Trauer, dass man seine Ziele nicht erreicht hat, Narzissten können aber nicht trauern, sie werden depressiv und suchen entweder Schuldige oder basteln sich ihre perfekte Welt neu zusammen, etwa indem man in Wahrheit ja die optimale Work-Life-Balance sucht und man die armen Leute ja bedauert, die sich kaputt schinden. Dass das möglicherweise genau das Gegenteil dessen ist, was sie bisher immer vertreten haben, würde einen Narzissten nicht irritieren, er würde einfach attestieren, dass man keine Ahnung oder nicht richtig aufgepasst hat oder die wahre Einstellung, die er hat, nicht erfassen kann.
Es spricht nichts dagegen, sich gründlich zu überlegen, ob Arbeit im Leben wirklich alles ist oder welchen Stellenwert ihr in der eigenen Biographie zukommen soll – für manche ist der Beruf eine Berufung, für andere ein notwendiges Übel – doch Narzissten schaffen es oft, das eigene Scheitern umzuinterpretieren, auch wenn das mitunter das genaue Gegenteil ihrer bisherigen Aussagen oder Einstellungen bedeutet. Sie müssen es schaffen, weil ein Scheitern in ihrem Leben nicht vorgesehen ist, man muss immer Erfolg haben und der beste Weg das eigene Leben zur Erfolgsstory zu machen, ist für sie, das was andere tun, als kümmerlich und nachranging hinzustellen. Auch dies gehört zu den typischen Erscheinungsformen des Prinzips Narzissmus, dort heißt es immer: So wie ich es mache, ist es perfekt. Nur so.
Superstar oder Loser
Der Mangel an Ambivalenz verbaut dann oft auch die Möglichkeit sein Glück in tatsächlich individuell definierten Zwischenräumen zu finden, die oft erst im Laufe des Lebens sichtbar werden, statt in vorgestanzten Masterplänen des Lebens, die Narzissten oft sehr wichtig sind. Statt kontinuierlich einen Weg einzuschlagen, bei dem Stein auf Stein gebaut wird, was allerdings mühsam ist, wird man durch das Prinzip Narzissmus oft zu der Idee verleitet, alles auf eine Karte zu setzen. Denn ein Superstar setzt sich am Ende so oder so durch.
Oft sind solche Größenphantasien verknüpft mit realen schlechten Startbedingungen, wenn man etwas aus einem bildungsfernen Haushalt stammt, falsche Freunde kennen lernt oder in eine Lebenskrise gerät, die auch schon in jungen Jahren auftreten kann. So kommen die Träume auf ein Superstar zu werden, am besten ohne viel dafür zu tun. Abhängen und warten, bis man entdeckt wird. Alternativ lockt für manche das kriminelle Milieu, der Supergangsta, in dem die männlichen Träume es geschafft zu haben, heißen, gefürchtet zu sein, Geld zu besitzen, ein dickes Auto zu fahren und viele Frauen zu haben. Auf der weiblichen Seite wird oft davon geträumt als Model, Sängerin oder Serienstar entdeckt zu werden oder den Richtigen abzubekommen, ein Alphamännchen, das kann der Abteilungsleiter, Chefarzt oder Gangleader sein. Für beide Geschlechter steht auch eine Karriere als Youtuber in Aussicht, alle mit der Illusion verbunden, man würde irgendwann einfach entdeckt weil man talentiert, süß oder besonders ist. Innerlich setzt man alles auf eine Karte, überzeugt, dass das Leben genau so läuft und überzeugt, dass man realistische Chancen hat, weil man anders ist, als all die anderen: härter, krasser, sexyer, hemmungsloser. Die verbindende Grundidee ist, dass man so großartig ist, dass man nicht übergangen werden kann und irgendwann zwingend entdeckt wird.
Selbstoptimierung
Doch zum Leben als Sekt oder Selters Lotteriespiel gesellt sich gerade in unserer Zeit noch eine andere, konträre Idee, die der Selbstoptimierung. Eine Aufgabe, die für Narzissten insofern reizvoll ist, weil sie sich den ganzen Tag mit dem beschäftigen können, was sie tatsächlich interessiert, mit sich selbst. Dass es sich dabei oft um eine Anpassung an die Bedingungen des Arbeitsmarktes handelt, wird dabei nicht bemerkt oder reflektiert, wenn das Prinzip Narzissmus mit Begriffen getriggert wird, die unwiderstehlich klingen stört es aber auch nicht sonderlich.
Dass man nur die Besten, Zähesten und Härtesten gebrauchen kann und das sind der Regel welche, die Effizienz und Leistung vereinen, das klingt wie Sirenengesang in ihren Ohren. Arbeite an dir, optimiere dich, sei besser, härter, radikaler, das spielt dem in die Karten, was Narzissten ohnehin anstreben. Es lockt die Aussicht, irgendwann zu den ganz Großen zu gehören und das Optimum ist, wenn man aller Welt dann zeigen kann, dass man dazu gehört. Dazu ist es nötig, dass man alles aus sich heraus holt, sein Potential optimal entwickelt und gerne und möglichst ständig über seine eigenen Grenzen geht, um zu begreifen, dass es eigentlich keine Grenzen gibt.
Was für die meisten Menschen ziemlich aufreibend und eher wenig attraktiv klingt, lässt Narzissten das Wasser im Mund zusammenlaufen, dass andere das nicht wollen, wissen sie, empfinden es aber als Schwäche, darum empfinden sie sich als anders, besser, besonders. Ein paar kleine Tricks gestatten sie sich dabei gerne, weil sie wissen, dass es nur darum geht, dass sie dort hin gelangen, wohin sie sowieso gehören, an die Spitze. Wird das gefördert, was Narzissten ohnehin gut können, sind sie mitunter extrem fleißig und diszipliniert, erwartet man von ihnen hingegen, sich in etwas einzuarbeiten, was ihnen nicht spielend zufliegt, brechen sie nach kurzer Zeit frustriert ab und entwerten den ganzen Bereich. Klein anzufangen, wie jeder andere, das ist nichts für sie.
Aber Selbstoptimierung ist ein großes, attraktives und aktuelles Thema für mit Menschen die mit dem Prinzip Narzissmus in Kontakt kommen, das wir uns deshalb in mehreren Lebensbereich anschauen:
Religion und Selbstoptimierung
Religion ist ein schwieriges Thema, da es nicht „die Religion“ gibt, sondern verschiedene Spielarten der Religion und Menschen auf verschiedenen Stufen der Entwicklung, die Religion vollkommen unterschiedlich auffassen können. In aller Regel ist Religion ein Mittel um zu lernen, sich demütig bestimmten Regeln unterzuordnen und die Idee zu verinnerlichen, dass es etwas oder jemanden gibt, der größer ist, als man selbst. Doch leider wird dieser Effekt vom Prinzip Narzissmus sabotiert, das Menschen dazu anregt, sich zwar Gott unterlegen, aber als Anhänger der einzig wahren Religion oder Lesart derselben, besonders berufen und allen anderen Religionen oder Interpretationen überlegen zu fühlen. Schon Freud kannte und benannte den Narzissmus der kleinen Differenzen der davon lebt, bei an sich großer Gleichheit minimale Unterschiede herauszukitzeln und zu betonen. Entsprechend kümmert man sich als gläubiger Mensch in aller Regel mit größerer Sorge um die Glaubensbrüder und -schwestern, andere Menschen, die keiner oder der „falschen“ Religion angehören sind einem tendenziell egal.
Allerdings gibt es auch auch hier Menschen, die sich zu Höherem berufen fühlen und entweder den Pol der Macht oder des Märtyrertums besetzen. Ein schwieriger Punkt, denn Religion braucht Ideale und diese Ideale sind oft in Heiligen oder Gottessöhnen personalisiert, die dann als erstrebenswertes Vorbild voran gehen. Grundsätzlich ist es gut Idealen zu folgen, weniger gut ist es, zu glauben, man hätte diese Ideale bereits spielend erreicht. Ein Ideal heißt: Da will ich hin, das finde ich erstrebenswert. Man kann sich auch im Leid suhlen, in der Idee, dass das, was man erleidet ein besonderer Ausweis ist, etwa in der Weise, dass Gott mich prüft und auserwählt. Wer nicht an Gott glaubt, kann das albern finden oder darin die Gefahr sehen, dass man unnötig leidbehaftete Situationen zu lange erduldet, statt sich beispielsweise zu wehren. Andererseits kann einem eine solche Überzeugung auch die Kraft geben, eine leidbehaftete Situation zu überstehen, wenn man weiß, wofür und warum. Vermutlich ist ein gläubiger Mensch da sogar besser aufgestellt, als jemand, der glaubt, er sei ein Produkt einer Kette beliebiger Zufälle und dass man daher eben manchmal Glück und ein anderes mal Pech hat und man da eben nichts machen kann.
Anstrengender sind sicher Gottes Musterschüler, die Demut heucheln, aber sich ansonsten dadurch auszeichnen, dass sie subtil überall zeigen, dass sie die etwas besseren Menschen sind. Rafael Bonelli hat drei griffige Kriterien zusammengestellt, die den Narzissmus beschreiben:
„Selbstidealisierung – im Sinne eines überhöhten Selbstwertgefühls und einer überzogenen Selbsteinschätzung. Der Narzisst hat ein grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit und glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein.
Fremdabwertung – im Sinne einer Verachtung und aktiven Herabsetzung des anderen, das zu einer Kooperationsunfähigkeit führt. Der Narzisst zeigt deswegen eine Gier nach Bewunderung, legt ein Anspruchsdenken an den Tag, ist ausbeuterisch, unwillig zur Empathie, neidisch und arrogant.
Selbstimmanenz – als Gegensatz zur Selbsttranszendenz bei Victor Frankl und Robert Cloninger. Der Narzisst kann sich für kein höheres Ideal begeistern außer für sich selbst.“[1]
Gerade in der Religion ist Selbsttranszendenz gefragt und dabei reicht es nicht, sich den Anstrich zu geben, im Dienst des Höheren zu stehen, gleich ob man in einer Religion, der Flüchtlingshilfe oder bei Greenpeace engagiert ist. All das kann man in den Dienst des eigenen Egos stellen und sich darin sonnen, wie großartig man doch ist und dass man das alles noch ein bisschen besser macht, als die anderen.
Das Prinzip Narzissmus zeichnet sich also nicht dadurch aus, dass man ein finsterer Egomane ist, der immer nur um sich selbst kreist, sondern auch dadurch, dass man in besonderem Maße gütig und hilfsbereit ist. Es ist dieser Zug, der es schwer bis unmöglich macht, anhand der äußeren Aktivitäten oder Einstellungen zu sagen, wie ein Mensch gestrickt ist. Auch beste Absichten zu haben, kann in die Hose gehen, in Das empfindsame Selbst sind wir dem stärker auf den Grund gegangen.
Zu den Stufen religiöser Entwicklung gehört ein Stück weit, andere Menschen zu sehen und zu würdigen und das eigene Ego etwas zurück zu nehmen, doch wie man in der Praxis sieht, gelingt das leider zu oft nicht mal denen, die in der Hierarchie der Kirche in dem Sinne nach oben gekommen, indem sie dort ein Amt bekleiden. Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, Jugendlichen oder Schutzbefohlenen oder religiös motivierter Fundamentalismus bishin zum Terror sind die eindrücklichsten Szenarien, wie sehr es ins krasse Gegenteil umschlagen kann, wenn man sich das vorgeblich Gute auf die Fahnen schreibt und in sehr vielen Fällen finden wir hier die finsteren Formen des Narzissmus, das heißt, Charaktere die von Aggressionen tief durchdrungen sind, wie wir in sie in der letzten Folge vorstellten.
Doch neben der schwer aggressiven Form, gibt es auch die leichteren Formen fremdentwertender Selbstherrlichkeit, bei denen man subtil andeutet, dass man ja etwas weiter, edler und heiliger ist. Das, was man manchmal die Frömmler oder Frömmelei nennt.
Es gibt auch hier ganz offensichtliche Formen, bei denen Narzissten so auftreten, als stünden sie mit Gott im engsten Kontakt (Mit wem als mir sollte Gott sich auch sonst austauschen?), so dass sie an der obersten Legitimation all ihrer Taten und Aussagen keinerlei Zweifel lassen. Diese Menschen sind aber keine Schauspieler, sondern von ihrer absoluten Sonderstellung selbst restlos überzeugt, was ihnen oft ein erhebliches Charisma verleiht.