Denk Dich frei oder alles Hormone?
Dennoch erscheinen uns Ansätze, die auf die Kraft des Geistes setzen nach wie vor merkwürdig. Allerdings sprechen nicht nur Randereignisse, sondern generell psychosomatische Symptome und Noceboeffekte ihre eigene Sprache. In der Hypochondrie und dem psychogenen Tod erfahren sie ihre negativen Höhepunkte, die es auf der anderen Seite des Spektrums allerdings ebenfalls gibt. Dort kennen wir Placeboeffekte und die Kraft der Erwartungen, die es vermögen, dass wir über uns hinauswachsen und selbst chronische Schmerzen bewältigen können, all diese Effekte sind längst nachgewiesen. Genau, wie die unspezifischen und daher breit ansetzenden Effekte von kompetenten Entstressungsprogrammen, Yoga und Meditationen, die in Gipfelerfahrungen, Wunderheilungen und Erleuchtungen ihre positive Höhepunkte finden. Zu naiv sollte man jedoch nicht daran gehen. Es reicht nicht, sich nur feste einzureden, dass es einem jeden Tag ein wenig besser geht, aber die Kombination aus Erwartungen und ihrer Bestätigung in der Realität kann man nutzen und immer weiter verstärken.
Aber ist es nicht schlicht vernünftiger, davon auszugehen, dass alles Materie ist? Abertausende Diabetiker spritzen sich täglich ihr Insulin und ihr Blutzucker sinkt, messbar und vorhersagbar. Menschen, die unter Parkinson leiden, nehmen ihr Dopamin und es geht ihnen besser. Ist das nicht überzeugend? Ja und nein, denn der Zucker sinkt auch, wenn man Menschen suggeriert, dass sie Insulin bekommen und man ihnen Kochsalz spritzt, auch die Parkinsonsymptome bessern sich und längst fordern Ärzte, die sich damit systematisch beschäftigen den Placeboeffekt aktiv in die Medizin einzubeziehen, wo genau die Grenzen dieser Effekte liegen, weiß man nicht, aber das was man heute weiß, reicht aus, um Menschen auf vielfältige Weise zu helfen.
Wenn wir jedoch die Kirche im Dorf lassen, gibt es dann nicht doch mehr, oder wenigstens regelmäßigere, berechenbarere Hinweise auf eine materielle Welt, in der die Gedanken und Gefühle, also Psychisches oder Geistiges doch der Materie nachgeordnet ist? Auch da ist die Datenlage durchwachsen. Nehmen wir etwas das männliche Sexualhormon Testosteron, das den Mann zum Mann macht. Wenn Männer es nehmen, deren natürliche Produktion nachgelassen hat, werden sie wieder vitaler, aggressiver und potenter, so das Versprechen von Ärzten und beim Doping. Frauen profitieren von dem leistungssteigernden Effekt noch viel mehr. Das Testosteron könnte also bestimmte Unterschiede zwischen Männer und Frauen ohne großen Aufwand erklären, so die größere Aggressivität von Männern mit viel Testosteron, die eben dann zupacken, wenn andere noch zögern, was sich auch in Verhandlungen um Karriere und Gehalt manifestiert.
Doch wie man bei Hustvedt lesen kann, konnten Studien nicht klären, dass es einen Zusammenhang zwischen Testosteron und aggressivem Verhalten beim Menschen gibt. Es gibt sogar Studien die einen wichtigen Einfluss von Östrogen, dem weiblichen Sexualhormon auf die Aggression beider Geschlechter nahelegen und letztlich, so ergibt ein Blick auf die Summe aller Studien, könnten Hormone die Ursache, Folge oder der Mediator der Aggression sein.[7] Die konkreten wissenschaftlichen Tests ergaben dann Folgendes:
„Christoph Eisenegger und Kollegen berichteten in ihrem Artikel „Prejudice and Truth About the Effect of Testosterone on Human Bargaining Behavior“ aus dem Jahr 2010, dass Testosteron ein faires, partnerschaftliches Verhalten in Verhandlungen bei Frauen, denen es verabreicht wurde, erhöhte. In einer Vergleichsstudie wurde allerdings festgestellt, dass die Frauen eigennützig und raffgierig handelten, sobald ihnen vorher mitgeteilt wurde, dass sie Testosteron bekämen, auch wenn es sich um ein Placebo handelte. Einer der Forscher, Michael Naefs, meint dazu: „Es scheint, als würde nicht das Testosteron selbst, sondern die Mythen, die um das Hormon ranken, Aggressivität erzeugen.“[8]
Und was jetzt?
Gleich wie das Armdrücken zwischen Gehirn und Geist im eigenen Weltbild der Leser ausgeht, das eigentliche Problem ist, dass jeder Sieg unbefriedigend ist. Die Problematik des Dualismus ist bis heute ungelöst und in moderner Variante heißt sie: Wie bringen meine Einstellungen Neurotransmitter in Bewegung? Wie wird aus Erwartungen etwas, was den Schmerz stillt oder intensiviert? Wie werden aus Gründen Ursachen oder umgekehrt? Wenn man ehrlich ist, wissen wir heute nicht mehr darüber, als vor über 400 Jahren.
Ist alles Materie und sind die Gedanken und Gefühle nur ein Produkt auf der Benutzeroberfläche, die wir Bewusstsein nennen, ein Epiphänomen, wie diese Form des Virtuellen philosophisch heißt? Könnte sein, aber das erklärt nun den immensen Einfluss nicht, den unsere Einstellungen tatsächlich haben und die wir dann wieder im Körper messen und nachweisen können. Der Naturalismus ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, Gott ist tot, aber auch die Wissenschaft ist verwundet. Sie stiftet immer weniger Sinn und Orientierung.
Was, wenn wir kühn werden? Vielleicht ist ja doch alles Geist, aber was genau würde das dann heißen? Dass die Welt ein großes Wunschkonzert ist, hieße es nur in der primitiven Variante. Denn die Umwelt bliebe uns erhalten, wollten wir nicht in einen Solipsismus abgleiten. Dieser würde bedeuten, dass es eigentlich nur mich sicher gibt, alles weitere wäre Spekulation. Doch das erlebte Ich setzt ein erlebtes Du und eine Erfahrung von Welt notwendig voraus, denn dieses Ich zu formulieren, heißt sich mit einem Teil des Ganzen, was man erlebt zu identifizieren und von einem anderen Teil abzugrenzen. Es könnte dennoch sein, dass ich das, was ich als Umwelt und Mitmenschen erlebe, nur phantasiere, erträume, also selbst erschaffe.
Dass ich die anderen, die ebenfalls bezeugen, dass es Bäume und Autos gibt, nur erfunden habe, ist zwar logisch möglich, aber schwer zu glauben und aufrecht zu halten, denn es ist schon mit einem erheblichen theoretischen Aufwand verbunden, wenn man begründen muss, dass man chinesisch lernen will und dazu jemanden braucht, der einem die Sprache beibringt, obwohl man sie doch selbst erfunden hat, nur leider die Menschen, die sie sprechen, nicht verstehen kann. Man muss das also irgendwie unbewusst erfunden haben und bringt sich dann durch einen, ebenfalls vom eigenen Geist produzierten anderen Menschen, das erneut bei, was man selbst erschaffen hat. Da muss die Kraft zum Glauben an diese Theorie schon groß sein.
Aber vielleicht tummeln wir uns ja alle zusammen in einer Welt, die uns materiell erscheint, nur, dass diese Erscheinung eben auf einer Regelmäßigkeit oder Gewohnheit beruht, wie andere Erscheinungen auch. Klar ist, dass wir nicht extra in eine Welt der Fernsehwerbung, der Superhelden Comics, der Serienstars und Youtuber, der Sprache, Gedanken und Gefühle, der Erwartungen und Befürchtungen, der Projektionen, sozialen Wahrnehmungen und kulturellen Eigenheiten reisen müssen, denn wir baden schon mittendrin. Soll heißen, wir leiten nicht mühsam aus einer objektiven Realität eine eigene subjektive Realität ab, sondern wir finden uns auch da in bestimmten interpretierten, phantaiserten Lebenswirklichkeiten vor, die von Anfang an so real, wie Tassen oder Bäume sind.
Welt, sei sie innen oder außen, Realität oder Phantasie, falls diese Unterscheidungen überhaupt etwas taugen, ist nie etwas, wozu wir uns den Zugang freischaufeln müssen, wir sind immer schon in allem mitten drin, ob Wetter oder Werbung, Steine oder Vorurteile. Wir leben gerade nicht mitten in Atomen und Molekülen, physikalischen Kräften und chemischen Verbindungen, sondern das sind bereits theoretische Interpretationen, Erklärungen nicht etwas, aus dem die Welt „in Wirklichkeit“ besteht. Wir haben uns so sehr angewöhnt naturwissenschaftliche Beschreibungen als wahrer anzunehmen, dass wir erst mal rätseln, was hier schief läuft, wenn wir mit der Behauptung konfrontiert werden, dass sie es nicht sind. Wir müssen zunächst wieder verstehen, dass eine Übersetzung von einer Sprache, Deutung oder Sichtweise in eine andere nicht wahrer oder wirklicher ist, sondern bloß eine Übersetzung, zum Beispiel die, in eine Spezialsprache, wie die der Physik. Und wenn dieser Übersetzung etwas fehlt ist dies eine schlechte Übersetzung weil ein unübersetzter semantischer Rest bleibt, den Habermas oben meinte. Wenn man also sagt, dass es Liebe nicht gibt, weil diese aus biologischer Sicht nur ein Tanz der Hormone sei und in der Physik gleich gar nicht vorkäme, so müssen wir uns langsam angewöhnen, diese Aussagen nicht als nüchternen Realismus, sondern geistige Beschränktheit zu erkennen. Der Blick von Nirgendwo ist eine Fiktion, also einen Zustand eines reinen Beobachters, der Welt, wie sie ist betrachtet, ist eine Fiktion. Eine Perspektive die Liebe, Eifersucht, Projektionen und dergleichen nicht kennt, ist eine in der es ein Mensch schaffen würde, kein Mensch zu sein. Denn wie nüchtern, besonnen und objektiv man zu sein meint, man hat immer Tausende von Vorurteilen über die Welt und ihre Bewohner im Kopf, einen großen Teil, ohne das einem das bewusst wäre.
Das alles ist nicht leicht und ungeklärt. Denn unsere Bewertungen, Urteile und Behauptungen über Welt, sind ja selbst auch Teil der Welt. Die Behauptung, dass dieser Stein 13 kg wiegt, ist ebenso Teil der Welt, wie der Stein, es gibt keine Welt zweiter Klasse. Man kann Aussagen über die Welt als nachgeordnet bezeichnen, so wird es auch manchmal getan. Meine Erwartung, dass ein Arzt und seine Medikamente mir helfen können, löst jedoch häufig einen starken realen Effekt aus, der meinen Körper beeinflusst, aber niemand weiß, wie das geht. Wenn aber meine bloße Einbildung diese kausale Kraft entfaltet, was sie ständig tut, ist die Rede vom Nachgeordnetsein dann noch zutreffend? Das würde bedeuten, dass es doch eine wirklichere Ebene gibt und das bedeutet letztlich nichts anderes, als die Welt ein weiteres Mal in zwei Hälften zu zerschneiden.
Dass Beste, was wir tun können, ist unideologisch zu akzeptieren, dass Körper und Geist, was auch immer sie sind offenbar direkt ineinander übersetzt werden können, ohne dass wir wissen, wie das geht. Erwartungen mögen Opioide freisetzen, aber einfach zu sagen, dass wir dann doch besser gleich die Opioide nehmen, das klappt nicht. Sie führen in die Sucht, nicht ins Glück oder Heilung. Je mehr der Körper und seine Chemie, unsere Überzeugungen, auch die halbbewussten und unsere Wünsche in die gleiche Richtung weisen, umso besser scheint das zu funktionieren. Ein pragmatischer Ansatz der die Gründe für seine Wirksamkeit weiter unbeachtet zurück lässt. Die neue Ungewissheit in Wissenschaft, Psychologie und Philosophie werden wir noch etwas ertragen müssen.
Quellen:
- [1] Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, Europa Verlag 1999, Original 1945, S. 577
- [2] Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Rowohlt 2018, S.76
- [3] Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp 2005, S. 170
- [4] Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp 2005, S. 172
- [5] Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Rowohlt 2018, S. 36
- [6] Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Rowohlt 2018, S. 37
- [7] Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Rowohlt 2018, S. 118 – 120
- [8] Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Rowohlt 2018, S. 120