Echo und Narziss, Gemälde Waterhouse

Er kann keine Beziehung eingehen, weil ihn sein eigenes Spiegelbild mehr fasziniert. Der Mythos von Echo und Narziss, gemalt von Waterhouse. gemeinfrei, Wikimedia/geocities

Das Prinzip Narzissmus soll ein umfassenderer Begriff sein, als die Formen der manifesten narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Er betrifft zudem Massenregressionen, bei denen Menschen, die an sich psychisch höher entwickelt sind, in einen Sog geraten und auf eine Stufe einfacher Urteile, Emotionen und Verhaltensweisen der zurückfallen. Diese Regressionen können narzisstisch oder paranoid ausfallen oder später ineinander übergehen. Zuletzt, gehört eine Art narzisstisches Ideal, das Menschen attraktiv finden oder weöches ihnen mindestens notwendig bis normal erscheint zum Prinzip Narzissmus. Dieses Ideal wird angefeuert von Personen des öffentlichen Lebens und deren narzisstischen Verhaltensweisen, die manchmal auch bis in psychopathische Gefilde reichen. Psychopathie ist eine regressiven, also schwere Form des Narzissmus.

Narzissmus ist einer der inflationärsten Begriff in der Psychologie und weil er auch in gesellschaftlichen Diskussionen so breit verwendet wird, kommt es zu mitunter heillosen Widersprüchen, wenn man über Narzissmus spricht und liest. Meiner Auffassung nach ist Narzissmus aber ein gravierendes und in seiner gesellschaftlichen Dimension kaum verstandenes Problem unserer Zeit, dessen Reichweite dramatisch unterschätzt wird und das zudem in seiner Bedeutung geleugnet oder heruntergespielt wird. Darum lohnt es sich das Phänomen zu verstehen, was ich Prinzip Narzissmus nenne und den von ihm ausgelösten Sog, mit ihm entgeht man auch den Zahlenspielereien, mit denen die psychosoziale Problematik oft bagatellisiert wird.

Wir wollen nicht in aktuelle Streits um Definitionen einsteigen, weil diese nur Fachleute interessiert, müssen aber dennoch kurz darzustellen, wovon die Rede ist: Für die einen ist Narzissmus eine schwere Erkrankung, für andere eine leichte, für wieder andere gar keine Erkrankung, sondern eine normale Erscheinung innerhalb unseres Verhaltensrepertoires. Eine weitere Position sagt, dass Narzissmus einfach nur, pathologisch oder nicht, eine Anpassung an unsere Gesellschaft ist. Narzissmus beginnt im Gesunden, doch er wird immer pathologischer, je mehr Aggressionen sich mit den narzisstischen Tendenzen vermischen.

Zugleich ist man sich über die Verbreitung und die Frage der Zunahme des Narzissmus ebenfalls herzlich uneinig. Einige sehen ein geradezu dramatisches Anwachsen des Narzissmus in den letzten Jahrzehnten und sprechen von einer narzisstischen Epidemie. Andere zucken ungerührt mit den Schultern und sagen die Zahl der narzisstischen Persönlichkeitsstörungen hätte sich eigentlich überhaupt nicht verändert. Selbstverständlich ist man über die Zahl der Narzissten und ob sie nun erschreckend hoch oder vernachlässigenswert gering ist auch uneins. Ungefähr 1-2% sagen die einen, fasst man die Eskalationsstufen des Narzissmus zusammen, kommt man vielleicht auf 8 – 10% bei den anderen. Die Gesamtzahl der schweren Persönlichkeitsstörungen zu denen die Narzisstische Persönlichkeitsstörung zählt, ist ebenfalls umstritten und wechselt schon deshalb, weil sich die Definitionen öfter mal ändern.

Wir beschreiben in der Folge den Narzissmus und werden vor allem das Prinzip Narzissmus vorstellen, das einige der Streitpunkte übergeht und Ihnen die Möglichkeit gibt, sich selbst ein Bild zu machen. Das Prinzip Narzissmus hat den Vorteil, dass man es losgelöst von der Frage betrachten kann, ob nun jemand tatsächlich im engen Sinne der Persönlichkeitsstörung narzisstisch ist, oder unter dem Einfluss von Massenregressionen steht, in denen auch ansonsten gesunde Menschen Verhaltensweisen aus dem Spektrum der schweren Persönlichkeitsstörungen zeigen können. Dass gilt ebeenfalls für zwischenzeitliche Regressionen in intimen Partnerschaften, die kurzfristig auftreten können. Zuletzt umfasst das Prinzip Narzissmus auch jene Situationen in denen sich jemand von narzisstischen Einstellungen mitreißen lässt, etwa, weil er einem charismatischen Narzissten begegnet oder diesen öfter erlebt.

Wie zeigt sich Narzissmus und warum gibt es ihn?

Narzisstische Menschen sind selbstbezogen, manche sagen selbstverliebt, doch das ist umstritten und wichtiger ist, dass es sich in allen Lebenslagen, mal auf leisen Wegen, oft jedoch auch ganz offen, stets um sie als Hauptperson drehen sollte. Ist das nicht der Fall, tritt der die Narzissten leitende Affekt hervor, schwerer bewusster und unbewusster Neid. Neid, nicht die wichtigste Person im Raum zu sein, Neid darauf, dass ein anderer die Aufmerksamkeit auf sich zieht, die doch, vom Selbstempfinden ausgehend, allein dem Narzissten gebührt und die er jederzeit für sich beansprucht. Das kann so weit gehen, dass man einen anderen beneidet, der einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat, sei es eine Krebsdiagnose, ein Unfall oder der Tod eines nahen Menschen nicht und zwar darum, dass dieser nun die bessere Story hat und ihm nun die Show stehlen kann.

Typisch für Narzissten ist ihre Unfähigkeit sich in für andere zu interessieren, über die Konkurrenz um Aufmerksamkeit hinaus, die gelegentlich in idealisierende Bewunderung kippt. Auch hier muss man aufpassen, denn es ist nicht im eigentlichen Sinne Empathiemangel der den Narzissten ausmacht. Es ist eine spezielle Stufe der Empathie, die Narzissten erreichen und über die sie nicht hinauskommen, über die sie auch nicht hinauswollen, jene des instrumentalisierenden Umgangs miteinander, sowie der Konkurrenz. Wie viele Menschen, denken gerade auch Narzissten, dass es kein anderes Motiv gibt, das Leben zu leben, außer dem Kampf um Aufmerksamkeit, Besonderheit und Anerkennung. Zur Anerkennung haben sie ein spezielles Verhältnis: Einerseits gieren sie nach Anerkennung, am meisten in Form von Bewunderung, doch wenn sie diese erfahren, können sie es nicht ertragen, dass der andere, der lobt und bewundert, etwas kann, was sie selbst nicht können: nämlich andere zu loben, zu bewundern und sich mit ihnen zu freuen, was wiederum den ewigen Neid intensiviert. So sind sie gezwungen, den der sie lobt zu entwerten, als jemanden, der ohnehin keine Ahnung von der wahren Bedeutung und dem Wert dessen hat, was sie da geleistet haben. Damit zerstören sie aber auch das Lob.

Ein sicherer Mechanismus selten bis nie zufrieden zu sein und folgerichtig sind Narzissten das auch nicht. Sie hassen sich selbst und lieben ihr ideales Ich, ihr grandioses Selbstbild, um das ihre Phantasie die ganze Zeit kreist und das ihrer Meinung nach den Menschen zeigt, der man eigentlich ist, ein oftmals verkanntes Genie, oder mindestens ein durch und durch besonderer Mensch. Ihre Pathologie ermöglicht es ihnen, ihr reales Selbst zu vergessen und ihr ideales Pendant an dessen Stelle zu setzen, so dass sie das Gefühl haben, bereits so zu sein, wie es ihrem Ideal entspricht. Aus dem Wunsch nach Großartigkeit, ist so das Gefühl geworden es bereits zu sein. Jedenfalls in der gutartigen, grandiosen Variante.

Aus diesem Grund fällt es ihnen auch leicht, sich mit Genies oder herausragenden Personen des öffentlichen Lebens zu identifizieren. Diese Menschen sind ihnen wesensverwandt, so die Selbsteinschätzung. Wenn Narzissten leiden, identifizieren sie sich auch gerne mit dem Leiden anderer, die Unerträgliches bis Übermenschliches durchmachen mussten, auch hier muss Grandioses geboten werden, die Botschaft lautet oft: „Was ich durchmache, hat noch niemand durchmachen müssen. Das kann sich keiner vorstellen.“ Durchschnitt, Normalität und Entdramatisierung sind dem Narzissten in fast allen Fällen fremd bis verhasst, so dass er zwischen Grandiosität und existentieller Katastrophe pendelt. Narzissten empfinden sich als Menschen, die alles auf eine ganz besondere Weise erleben und es ist ihnen wichtig, dass so gut wie niemand nachvollziehen kann, was sie bewegt, wie sie empfinden, so dass das ein Erlebnis, was andere auch hatten, bei ihnen immer noch eine besondere Note erhält. Die anderen schaffen es einfach nicht so feinfühlig, sensibel, krass, offen, schonungslos oder mit geistreichen Bezügen und Assoziationen die Welt zu erleben, wie sie es tun, ihre Welt bleibt den anderen, vor allem dem Durchschnitt verborgen. Gleichzeitig können sie mit den Freuden der Normalen oft nichts anfangen und empfinden deren Vergnügen oft als unter ihrem Niveau. Unbewusst leiden sie dann jedoch darunter, dass auch ihnen die Welt des anderen verschlossen bleibt, aber der Schmerz, den das auslöst und die Trauer darüber, können sie nicht empfinden. Statt dessen wird die Welt des anderen als nicht so wichtig, läppisch, lächerlich, primitiv oder total uninteressant entwertet.

Neidisch ist man aber stets auf etwas, was man selbst gerne hätte, von dem man jedoch weiß, dass man es momentan oder prinzipiell nicht bekommt. Die Schwärmerei über das Ideale, Besondere und die Triumphe sind oft nur Ersatz für die Unfähigkeit an der der Welt teilzunehmen: „Guck mal, was ich habe und wie großartig ich bin, und wie lächerlich klein Du dagegen bist.“ Man macht den anderen klein, um selbst groß zu sein, sich das zumindest unausgesetzt einreden zu können.

Das Prinzip Narzissmus: Ursachen

zwei Büros von außen, schwarzweiß

Eine effektive Bürokratie fördert das sadistische Potential des Narzissmus. © Jim Penucci under cc

Neben dem klassischen Weg einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, deren Ursachen in der frühen Kindheit liegen, hier speziell wenn man chronischer Aggression und Spitzenaffekten ausgesetzt ist, oder in falscher Weise idealisiert und überbehütet wird, gibt es andere Pfade, auf denen man zum Prinzip Narzissmus gelangt. Da sind zuerst Massenregressionen zu nennen, in denen durch gesellschaftliche Stressoren regressive Bewegungen, hin zu Lösungsansätzen vergangener, einfacherer Entwicklungsstufen ins an sich differenziertere Spiel kommen.

„Zahlreiche Faktoren, ob einzeln oder in Verbindung miteinander wirksamen, können den Wechsel einer herrschenden gesellschaftlichen oder politischen Ideologie in Richtung eines paranoiden Fundamentalismus beschleunigen, insbesondere in einer Kultur in der es eine große Bereitschaft für Rassismus und kriegerische religiöse Auseinandersetzungen gibt. Zu diesen Faktoren gehören schwere gesellschaftliche Traumata, wie z.B. die Niederlage in einem Krieg oder der Verlust nationaler Territorien, wirtschaftliche Krisen, die Bedrohung durch feindliche Gruppierungen im Innern oder durch äußere Feinde, die Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten oder unterdrückten Klasse. All diese Bedingungen können die Regression der Gruppe zu einem gewalttätigen Mob oder einer Massenbewegung machen.

Zusammenfassend können wir festhalten: Zu den vielen verschiedenen Faktoren, die die massive Regression einer Bevölkerungsgruppe auslösen können und gesellschaftlich sanktionierte Gewalt sowie den Zusammenbruch aller bislang gültigen Moralvorstellungen und zivilisierten menschlichen Umgangsformen nach sich ziehen, gehören

  • unverarbeitete soziale Traumata,
  • fundamentalistische Ideologien,
  • primitive, insbesondere maligne narzisstische Führung,
  • eine effiziente, rigide Bürokratie sowie
  • die durch eine Finanzkrise oder gesellschaftliche Revolution hervorgerufene Auflösung herkömmlicher gesellschaftlicher Strukturen und der damit verbundenen Aufgabensysteme.

Bracher (1982) hat dargelegt, dass staatliche Kontrolle der Wirtschaft, der Streitkräfte und insbesondere der Medien, die Machtübernahme durch eine totalitäre Führung zusätzlich fördert.“[1]

Regressionen können außerdem durch Massenmedien verstärkt werden. Entgegen dem was man meinen könnte, kann man auch dann einer Masse angehören, wenn man alleine zu Hause vorm Fernseher sitzt, wie auch in Massenpsychologie erläutert.

Das Prinzip Narzissmus: Verstärker und Wechselwirkungen

Eine andere und spannende Frage ist, inwieweit unser kapitalistisches Wirtschaftssystem ursächlich mit einer Entwicklung des Prinzips Narzissmus verbunden ist, da es größere Überschneidungen zwischen dem gibt was man einerseits als Narzissmus aber andererseits als Dekadenz bezeichnen kann. Zudem greifen die Ursachen hier ineinander.

„Horkheimer, Adorno und Lasch führen das Auftauchen des Narzissmus als dominanten Charakterzug und die Ausweitung Narzisstischer Persönlichkeitsstörungen als vorherrschende Psychopathologie auf den Zusammenbruch väterlicher Autorität und die Verwässerung mütterlicher Fürsorge im Zuge veränderter familiärer Strukturen und ökonomischer Produktionsprozesse zurück. Die Übernahme elterlicher Funktionen durch Medien, Schule und Sozialeinrichtungen haben zu einer Verwässerung elterlicher Autorität und zur Beeinträchtigung der Fähigkeit von Kindern geführt, starke psychische Identifizierungen mit ihren Eltern auszubilden. Autorität und Autonomie des Vaters werden mehr und mehr durch die Trivialisierung seiner Rolle im Produktionsprozess unterminiert, während Effektivität und Fürsorge der Mutter durch die zunehmende Professionalisierung von Kindererziehung und den Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Rolle als Trägerin dieser Qualitäten (d.h. Liebe, Zärtlichkeit, Gegenseitigkeit) infrage gestellt werden – Qualitäten, die einer Reduzierung des Menschen auf ein bloßes Anhängsel von Produktionsprozessen entgegenstehen.“[2]

Väterliche Autorität und mütterliche Fürsorge werden delegiert an andere, von denen es heißt, dass sie die Eltern mindestens gleichwertig ersetzen können. Genau diese Konstellation machen Horkheimer, Adorno und Lasch aber für das Anwachsen narzisstischer Störungen verantwortlich oder wenigstens für das, was ich das Prinzip Narzissmus nenne. Dieses Aufweichen der Familie lässt professionelle Erzieherinnen und Massenmedien, Peergroup und dergleichen annähernd gleichberechtigt an die Stelle der Eltern treten, die dann natürlich mehr Zeit für ihre Arbeit haben.

Dort gilt es nun erfolgreich zu sein, seinen Mann zu stehen und inzwischen auch als Frau erfolgreich zu sein. „Nur“ Mutter zu sein, wirkt dann oft wie etwas für Frauen, die ein wenig altbacken oder gar für das Berufsleben ungeeignet sind, wie eine Art Makel. Die Erfolgsfrau vereint spielend beides. In einer Gegenbewegung versucht man dann das Muttersein offensiver zu leben, aber Kinder sind ein Karrierekiller und vor allem zum Kostenfaktor geworden und sich immer mehr über beruflichen Erfolg zu definieren ist inzwischen auch bei den Frauen angekommen. Die Gleichberechtigung aller Stimmen ist vielleicht etwas, das Erwachsene verarbeiten können, Kinder jedoch noch nicht. Was passieren kann, wenn die Dominanz einer Stimme, die uns um Ödipuskomplex begegnet einfach ausfällt, haben wie in Warum wir den Ödipuskomplex brauchen und Narzissmus in der Gesellschaft ausgeführt.

Der schwierige Schritt dabei ist, zu begreifen, dass wir eine bestimmte Struktur leben müssen, um sie dann später zu überwinden und hinter uns zu lassen. Der nachvollziehbare Gedanke ist, dass man sich den Schritt dann doch gleich schenken kann, doch entwicklungspsychologisch gesehen, kann man das nicht.

Anpassung und Gehorsam

Die umkämpfte Stufe ist dabei die von Gehorsam und Anpassung. Beides ist uns nicht sympathisch und löst Bedenken aus. Die Sorge ist, dass derjenige, der Gehorsam und Anpassung verinnerlicht, später ein stromlinienförmiger Opportunist, ohne Rückgrat und eigene Meinung wird und das sind Charakterzüge, die wir nicht schätzen.

Im Rahmen einer ödipalen Entwicklung lernt man allerdings, dass der Vater immer recht hat, egal ob er Recht hat und die Mutter ein guter, fürsorglicher Mensch ist, die mich immer lieben wird, egal, was ich tue. Im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen wurden diese Rollenbilder als verkürzte und fragwürdige Stereotypen betrachtet. Frauen haben bewiesen, dass sie „ihren Mann“ stehen können, Männer lernen fürsorglich zu sein und im Haushalt mitzuhelfen. Sie haben keineswegs immer Recht, schon gar nicht aus Prinzip, vieles wird heute partnerschaftlicher gehandhabt, da der Mann nicht mehr unbedingt der alleinige Versorger ist und oft auch nicht gebildeter.

Die eigentliche Frage ist, ob wir mit dieser neuen Entwicklung unterm Strich mehr gewinnen oder verlieren. Angestoßen wurde sie in der gesellschaftlichen Revolution, die in den späten 1960ern begann. Schritt um Schritt wurden hier mehr Freiräume für Frauen erkämpft, auch die sexuelle Freiheit war ein Thema und die Idee, dass Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung kein Kriterium mehr sein sollte, durch das Menschen benachteiligt würden. Ideen von Tradition, Werten, Gehorsam und Anpassung galten als antiquiert bis reaktionär. Freiheit war größtenteils die von Beschränkungen, man wollte den konventionellen Mief endlich hinter sich lassen und argwöhnte, dass gerade Gehorsam und Anpassung die Eltern dazu verleitet hätte, in Zeiten der Nazidiktatur blind und kritiklos mitzumarschieren.

Kaum jemand würde die 68er Revolution heute als schlecht oder falsch bezeichnen, sie wird alles in allem als segensreich angesehen und viele profitieren heute ganz selbstverständlich von ihren Errungenschaften, oft ohne zu wissen, dass andere dafür kämpften und dies noch nicht lange her ist. Auf der anderen Seite gingen Selbstverständlichkeiten nach und nach verloren. Alles konnte, musste aber auch neu ausgehandelt werden und irgendwann – für die einen früher und die anderen später, für manche gar nicht – wurde es zu viel: die Freiheit als Möglichkeit wurde zum Zwang endlich alle Fesseln abzulegen und wenn man sich gar nicht als sonderlich unfrei empfand, so kam oft jemand, der einem erklärte, dass läge nur daran, dass man bereits so unfrei und angepasst sei, dass man seine eigenen Bedürfnisse schon gar nicht mehr spürt.

Kreise im gelben Quadrat

Die andere Seite des Narzissmus: eine Lust an der Anpassung an Konventionen und Klischees. © Pedro Ribeiro Simões under cc

Manchmal mag das so sein und man ist im Nachhinein froh, wenn einem jemand die Augen geöffnet hat, doch andere snd mit ihrem bieder wirkenden Leben wirklich zufrieden oder, eine weitere Variante, sind einfach nicht der Typ der ständig kämpft, bis ein Ziel erreicht ist. Die neue Freiheit ist dann eher anstrengend und verwirrend, die negative Pointe der Geschichte.

Wenn des Vaters Stimme keine dominante, sondern eine von vielen ist und die Erzieherinnen in Grunde alles können, was Mutter auch kann, ist die Sonderstellung der Eltern gebrochen. Das scheint der eigentliche Wirkmechanismus zu sein, den es zu verstehen gilt. Der Chor der Stimmen bedeutet eben auch eine Vielzahl der Ansichten, Meinungen, Wertvorstellungen, aber auch Alltagsraktiken. Das elterliche Monopol zu erweitern, ist gut, wenn man später mit dem Vater kämpft und seine Alldominanz infrage stellt. Der Ödipuskomplex soll ja überwunden werden, man muss dafür gegen die Eltern rebellieren, den Vater in sich und seine dominierenden Wertvorstellungen, töten.

Wenn dieser Kampf nun ausfällt, stellt sich die Frage, wie es mit der Ich-Stärke aussieht. Dieser Kampf stärkt das Ich, man muss sagen, was man will und gerne anders hätte. Hat das Kind hingegen keine privilegierten Werte und Orientierung mitbekommen, kann ein Resultat sein, dass man sich eben überall anpasst, weil immer und überall anderes richtig ist. Das führt ironischerweise dazu, dass man sich besonders gut anpassen kann und nun unbewusst lebt, was man bewusst nicht wollte. Sind die Kinder intelligent, dann passen sie sich nicht nur an, sondern können überdies lernen, andere Menschen gut zu verstehen, wenn man sich in ihre Situation versetzt und die Welt durch ihre Augen sieht. Eine Fähigkeit zur Empathie, die gut und wertvoll ist, allerdings fehlt manchmal die andere Seite, nämlich ein fester Standpunkt, der einen selbstsicher sagen lässt, wo die Grenzen sind, was geht und was nicht geht. Das hat man nie gelernt, wenn alles eine Meinung unter anderen war.

Dass dies keinesfalls graue Theorie ist, zeigten psychologische Untersuchungen an abwesenden Vätern der Nachkriegsgeneration. Entweder waren sie in Kriegsgefangenschaft, die auch noch in die Zeit nach dem Kriegsende hineinreichen konnte, starben im Krieg oder waren so traumatisiert, dass sie ihre Rolle in der Familie nicht mehr spielen konnten. Der Kampf mit dem Vater fiel also aus, doch das Resultat war nicht, dass ein lastender Druck von den Kindern genommen wurde und diese sich nun frei und kreativ entfalten konnten, sondern der Effekt war das, was man in den 1980ern als das „Zeitalter des Narzissmus“ diagnostizierte.

Wenn Werte zu stark relativiert werden, passt man sich dem an, was gesellschaftlich dominiert, das ist Geld, soziales Ansehen und Anerkennung in irgendeiner Form. Die sozialpsychologische Dynamik dahinter ist, dass Eltern, die selbst schon nicht mehr gegen ihre Eltern kämpfen mussten, dieses Muster auch nicht an ihre Kinder weiter geben. Die Familie wird immer mehr zum Team, Mutter wird später zur besten Freundin, Vater zum Ratgeber in anderen Lebensbereichen. Wir gehen später auf einzelne Ausprägungen ein. Ist nun unsere kapitalistische Wirtschaftsform verursachend für den Wegfall des Ödipuskomplexes, sind es die Veränderungen im Zuge der 68er Revolution, oder ist es gar der Wegfall des Ödipuskomplexes, der eine Anlehnung an den Kapitalismus und das Geld als letzten Wert überhaupt erst ermöglicht? (Den psychologischen Mechanismus dieser narzisstischen Anpassung stellen wir im zweiten Teil genauer vor.)

Das Internet und soziale Medien

Die sozialen Medien bedienen das Prinzip Narzissmus ebenfalls, durch drei Effekte:

Die optimale Plattform für die Selbstdarstellung

Wer früher merkwürdige oder wirre Ideen hatte bekam das von seiner Umwelt gespiegelt, wurde oft einfach ignoriert und seine Wirkung war regional begrenzt. Heute bastelt man sich seine Website, seinen Blog oder hat diverse Social Media Accounts und hat eine viel größere Reichweite. Damit das gelingt, muss man auffallen und im Internet heißt das in aller Regel immer zugespitzter und krasser zu werden. Nicht die Qualität interessiert, sondern möglichst viele Follower oder Freude zu haben, Aufmerksamkeit ist die digitale Währung und die bekommt man nur, wenn man was zu bieten hat. Als Mann muss man tendenziell extreme Aktionen starten oder Ansichten haben, Hauptsache man setzt sich ab, die Konkurrenz schläft auch hier nicht. Frauen bekommen Aufmerksamkeit, wenn sie entweder eine sehr normale Projektionsfläche sind, oder hübsch und sexy und dies auch zeigen, vorwiegend durch Nacktheit bis zur Pornographie, ein Trend, der auch bei Männern zunimmt. Die Regression kommt hier durch eine Trivialisierung von Beziehungen zustande, Masse statt Klasse und einem für den Narzissmus typischen Hang zum Exhibitionismus.

Wie bei allem hat diese Entwicklung Licht und Schatten, man findet tatsächlich für nahezu alle Themen Partner in der digitalen Welt, nur ist eben das Interesse an Primitiverem stets größer als an Anspruchsvollem.

Die Echokammer des Gewohnten

Der Idee der Echokammer ist unlängst revidiert worden, da die Personalisierung, bei den großen Suchmaschinen wohl nicht so groß ist, wie angenommen. Zudem wird gesagt, die Meinung des anderen sei nur einen Mausklick weit weg. Doch man kann das Konstrukt der Echokammer weiter fassen, dann gehört nicht nur Genehmes im Sinne der Bestätigung eigenen Meinung dazu, sondern auch der gelegentliche Ausflug ins Lager des „Feindes“ um sich zu bestätigen, dass die Welt wirklich so ist, wie man denkt. Die eigenen Feindbilder machen einen wichtigen Teil eigenen Weltsicht aus. Die Welt erscheint dort wirklich so schlecht, wie befürchtet, deshalb bleibt man bei dem was man hat. Diese Verfestigung eines simplen Freund/Feind-Schemas ist ein typisch narzisstisches Element.

Die digitale Nabelschnur

Eine andere Funktion des Internet ist die, dass da dauernd jemand ist, man hat immer Ablenkung und Kontakt. Dieser Kontakt beruhigt, kann allerdings auch tiefere Empfindungen und Reflexionen verhindern, weil eben irgendwo immer was los ist und alle paar Minuten eine neue Nachricht kommt, die im Grunde nicht wichtig ist, sondern einfach nur zeigt, dass da jemand ist. Zugleich wird aber auch trainiert, dass noch die banalsten Dinge des Alltags von potentiell weltweitem Interesse sind und es Wert sind mitgeteilt zu werden. Was man gerade isst, wo man sich gerade mit wem befindet. Die permanenten Unterbrechungen des Alltags sind ebenfalls problematisch, weil sie unsere Aufmerksamkeit fragmentieren.

Das Prinzip Narzissmus und seine tiefenpsychologischen Zusammenhänge

Das Prinzip Narzissmus ist eine Abwehr gegen die Idee, dass es tiefe Beziehungen gibt, die auf Augenhöhe funktionieren und bei denen man sich wechselseitig wertschätzt.

Es ist ein unbewusstes Prinzip, das heißt, jemand in dem dieses Prinzip Narzissmus aktiv ist, weiß nicht, dass er da etwas abwehrt und auch nicht was. Die bewusst erlebbare Seite und damit die tiefe Überzeugung ist, dass Beziehungen immer asymmetrisch sind, eine Machtkonstellation sind und einer der beiden dominiert und der andere folgt.

Viele wissen aus eigenem Erleben, dass es aufrichtige und wertschätzende Beziehungen gibt, aber Narzissten denken, dass dies ein Trick und selbst ein Machtspiel sei, von Menschen, die raffiniert genug sind, um die Gefühle anderer zu manipulieren und ihnen gleichzeitig das Gefühl zu geben, sie würden genau das nicht tun und authentisch sein. Diejenigen, die glauben, dass man sich wechselseitig ernst nimmt und wertschätzt, sind nach Ansicht der Narzissten entweder naiv oder haben nicht den Mut sich oder anderen einzugestehen, wie es in Wirklichkeit ist. Der Narzisst selbst glaubt, er sei einer der wenigen, der frei von Illusionen ist. Dementsprechend werden alle Versuche einem Narzissten klar zu machen, dass es Wertschätzung und Symmetrie in Beziehungen tatsächlich gibt, von ihm sabotiert, weil er aufgrund seiner Überzeugung (die besagt, dass das nicht sein kann) glauben muss, man wolle ihn hinters Licht führen oder manipulieren. Er reagiert darauf wütend oder mit kühler Entwertung und spöttischer Herablassung und hält andere auf Distanz.

Die unbewusste Abwehr erklärt auch die beiden, dem Narzissmus zugeschriebenen scheinbar konträren Verhaltensweisen, die zum einen darin bestehen, selbst großartig und mächtig zu sein und auf die Welt hinabzublicken und auf der anderen Seite sich opportunistisch seichten Konventionen zu unterwerfen. Das wird dadurch ermöglicht, in dem man einen tatsächlich mächtigen anderen idealisiert und ihm dadurch die Gefährlichkeit nimmt, weil man ja nun, durch die anpassende Idealisierung, genau das will, was der mächtige andere will. Die andere Variante ist, dass der mächtige andere genau die gleichen Ziele zu haben scheint, die man selbst hat. Oder man passt sich bewusst nur „zum Schein“ an, wobei man natürlich „weiß“, dass das ganze Szenario nur eine Spielerei ist oder verweigert sogleich jede Gefolgschaft, weil man meint die wahren Mächtigen säßen an anderer Stelle, und manchmal phantasiert, man sei einer von ihnen.

Quellen