Frauengesicht im Halbschatten, Kristallkugel

Therapeutinnen werden manchmal als Menschen mit stechendem Blick und hellseherischen Fähigkeiten angesehen. © Claudia Dea under cc

Die Anteilnahme des Psychotherapeuten ist ein Thema was immer wieder für Irritationen sorgt. Der Sprung sich zu einer Psychotherapie zu überwinden ist groß. Dann sitzt man sich irgendwann zum ersten Mal gegenüber und für den Patienten oder Klienten ist das immer ein ungewohnte Situation, er oder sie ist aufgeregt und das ist gut und normal, ein Alarmsignal wäre eher, wenn man nicht aufgeregt ist. Therapeuten, außer wenn sie neu sind, haben diese Situation schon zig mal erlebt, für sie ist es Alltag, sie wissen aber in aller Regel, was ihr Gegenüber leistet, allein durch die Tatsache überhaupt zur Therapie zu kommen.

Den ersten Schritt gemacht zu haben heißt aber noch nicht, dass man bereit ist, sich wirklich zu öffnen. Es kann sein, dass ein Patient in der Praxis erscheint und dann völlig verstummt oder Banalitäten von sich gibt. Dieser hohe Grad an Stress ist in erster Linie den Projektionen des Patienten geschuldet. Projektionen sind aber kein Fehler oder böse, sondern das womit man arbeitet. Ähnlich wie das Symptom, was man dem Arzt präsentiert.

Die Grundkonstellation einer solchen Begegnung ist in mehrfacher Weise asymmetrisch: Zum einen, ist der Patient derjenige, der um Hilfe bittet, zweitens, gibt es eine projizierte Asymmetrie, in der der Patient sich einer komischen Gestalt gegenüber sieht, die irgendwie über einen Röntgenblick verfügt und alles was er tut, sagt oder wie er sitzt, sofort kritisch deutet und innerlich in einem roten Buch notiert und drittens, gibt es einen realen Wissensvorsprung des Therapeuten.

Erstes Ziel: Aus Asymmetrie wird Partnerschaft

Das Ziel ist daher, diese schroffe Asymmetrie in eine lebendige Partnerschaft zu verwandeln, aber eben eine Partnerschaft unter besonderen Bedingungen und Regeln. Der Psychotherapeut ist kein Freund und wird im idealen Fall auch keiner. Seine Rolle ist dadurch definiert, dass er die Gepflogenheiten der Gesellschaft, also die Floskeln mit denen man über psychisch Wesentliches hinweg geht, zwar kennt, weil Therapeuten sich natürlich auch im Alltag bewegen und ein normales Leben führen, aber zu ihrer Aufgabe gehört es, genau auf diese Beschwichtigungen und Ablenkungen nicht wie gewohnt einzugehen, sondern genau hier hinzuschauen und nachzubohren. Das wirkt verstörend, weil man sich mit einem „So habe ich das doch nicht gemeint“, hier nicht rausreden kann.

Doch dieses Insistieren verstärkt die Asymmetrie eher noch einmal, so dass der Therapeut durch Anteilnahme zeigen muss, dass er auf der Seite des Patienten ist. Das ist alles in allem kein leichter Schritt und einer, der missglücken kann, auch weil die Vorstellungen des Patienten, was diese Anteilnahme bedeutet in der Regel andere sind, als die des Therapeuten. Die Rolle des Therapeuten liegt, gerade bei aufdeckenden Therapieformen darin, dass er versteht, was mit dem Patienten los ist, sich aber gleichzeitig davor hütet, sich mit ihm in gleiche Boot zu setzen und zu verbrüdern. Wenn es zu einer „Wir beide, gegen den Rest der Welt“ Einstellung kommt, ist bereits gewaltig was schief gelaufen und der Therapeut hat sich verführen lassen.

Dies ist bereits ein wichtiger Punkt. Der Therapeut muss nicht mit dem Patienten durch dessen Leben gehen, oder ihm im Alltag helfen, sondern seine Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass der Patient in die Lage versetzt wird, sich selbst zu helfen. Er muss sein Leben nachher wieder selbst besser auf die Reihe kriegen und die Frage des Therapeuten ist in dem Moment, ob es es schaffen kann, dem Patienten zu helfen, sich selbst zu helfen. Das kann bei den unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen auf mehreren Wege geschehen.

Therapeutische Anteilnahme in der Verhaltenstherapie

In der Verhaltenstherapie wird der Patient dazu angehalten, seine bisherigen, als schädlich erachteten Verhaltensweisen zu ändern. Dies muss nicht unbedingt auf der Basis von Einsicht auf Seiten der Patienten geschehen, aber besser ist natürlich, wenn dieser sieht, dass das Muster was er bisher lebt, nicht funktioniert, schließlich hat es jene Probleme hervorgerufen, in denen der Patient jetzt steckt. Dieses Muster gilt es zu ändern, entweder auf der Ebene des konkreten Verhaltens oder dadurch, dass man bestimmte Techniken erlernt, die es einem erlauben katastrophisierende Gedanken zu unterbrechen, Ängste besser zu bewältigen und sich aktiv zu entspannen.

Die Anteilnahme des Therapeuten besteht darin, dass er das Problem des Patienten richtig erkennt und meint, die richtigen Bausteine in der Hand zu haben, die es ihm ermöglichen, seine Probleme, zunächst mit Unterstützung, aber dann in Eigenregie zu lösen.

Therapeutische Anteilnahme in der aufdeckenden Therapie

Psychodynamisch weitaus komplexer ist der Ansatz der deutenden Therapien, die als Gemeinsamkeit haben, dass der Patient hier die psychischen Zusammenhänge verstehen muss. Er muss die Bereiche, die für ihn im Schatten des Unbewussten liegen so gut nachvollziehen können, dass er nicht nur eine konkrete Situation versteht, sondern das alle seine Konflikte verbindende Muster. Näheres dazu in: Wie wirken psychologische Deutungen?

Die Anteilnahme des Therapeuten sieht so aus, dass er die Probleme des Patienten empathisch verstehen muss, aber gleichzeitig eine gewisse Distanz zu ihm hält und diese Justierung von Nähe und Distanz ist es, die zu allerlei Irritationen führt.

Zwischen stützender und aufdeckender Therapie gibt es Überschneidungen, so wie fließende Übergänge. Es gibt stützende Therapie auf psychoanalytischer Basis und deutende Elemente im Rahmen kognitiver Verhaltenstherapie.

Übertragungen

Die Irritationen haben in der Psychotherapie einen Namen, Übertragungen. Die Frage wie viel Anteilnahme Therapeuten zeigen müssen wird wesentlich durch die Übertragungen aufgeworfen und auch immer wieder verzerrt. Übertragungen sind die Projektionen des Patienten auf den Therapeuten, das, was er in ihm sieht. Dass der Patient den Therapeuten verzerrt sieht, ist dabei, wie oben erwähnt, kein Hindernis, sondern erwünscht. Sozusagen der Rohstoff mit dem aufdeckende Therapien arbeiten.

Diese Projektionen können verschiedene Inhalte haben und zeigen dabei im Idealfall die Probleme des Patienten an. Dadurch, dass der Therapeut auf Witzchen, Beschwichtigungen, Bagatellisierungen und dergleichen nicht reagiert oder zumindest nicht so, wie es dem üblichen Prozedere entspricht, irritiert er. Kein erlösendes Lachen, sondern interessiertes Nachfragen oder dann und wann eine Deutung, die dem Patienten präsentiert wird.

Dachte man früher, nur gut organisierte, neurotische Patienten könne man deuten, so hat sich dieses Bild inzwischen geändert. Auch für weniger organisierte und ich-schwache Patienten gibt es deutende Ansätze, in manchen Fällen verbunden mit einem Behandlungsvertrag, der manchmal den therapeutischen Effekt hat, dass bereits hier intensive Übertragungen aktiviert werden. Da manche Patienten sich durch Regeln aller Art bereits maximal provoziert fühlen und wütend darüber sind, jetzt auch noch hier mit idiotischen Forderungen geknebelt zu werden. Die Deutung kann also direkt beginnen und der Vertrag ist ein Teil des Konzepts.

Aber auch wer damit keinerlei Probleme hat, wird irgendwann projizieren. Die Nichtreaktion des Therapeuten in vielen Bereichen, das Nachfragen dort, wo man die Dinge gerne vage lässt, all das irritiert nachhaltig. Die Reaktion könnte sein, dass man eingeschnappt ist. Irgendwie legt dieser Mensch alles auf die Goldwaage. Gleichzeitig zwingen Nachfragen den Patienten dazu mal konkret zu werden. „Wie läuft die Partnerschaft?“ „Großartig.“ Aber wie genau, was heißt das? Wo versteht man sich gut, wie sieht ein typischer Tag aus, was macht man zusammen, was nicht? Wie fühlt man sich dabei? Und so weiter.

Die Aufforderung in allem konkret zu werden, bietet den Raum sich zu sammeln und selbst Klarheit über die eigene Lebenssituation zu gewinnen. Es stresst aber auch. Wenn man öfter vage und unkonkret ist, hat man das Gefühl mit genau den Nachfragen und gefühlten Vorwürfen zu tun zu haben, die man aus dem Alltag schon kennt. Auch das eine brisante Situation. Nun hat man sich schon mal auf die Therapie eingelassen, nun wird man auch hier mit vermeintlichen Banalitäten genervt. Ging es nicht darum, die entlegenen Winkel der eigenen Psyche auszuleuchten? Und jetzt auf einmal dieser banale Mist, von wegen Arbeit oder Socken wegbringen? Es dämmert das Gefühl, dass man sich getäuscht hat. Nun hat man den Vertrauensvorschuss gegeben und sich auf das Spiel eingelassen und auf einmal erweist sich der Therapeut als eine stinknormaler Mensch, der einen nach den dummen Klischees abrastert, wie die anderen auch. Die Idealisierung droht in Entwertung zu kippen, hier muss der Therapeut wach sein.

Ist er das, hat der Patient die Chance zu lernen, dass es tatsächlich darum geht, ihn lebensfähig zu machen, statt seine originellen Ideen zu feiern. Wenn es gut läuft, fällt dem Patienten jedoch irgendwann ein Unterschied auf. Der Therapeut ist enttäuschenderweise wie alle anderen auch, aber doch ist etwas anders: Er verurteilt mich nicht. Er deutet, aber der Angriff, die Vorhaltungen, der moralische Zeigefinger bleibt aus. Hier unterscheidet sich aufdeckende Therapie von jenen Formen, die dem Patienten sagen was richtig und was falsch ist und „Richtiges“ mit ihm trainieren.

Das macht die Begegnung bei aufdeckenden Therapieformen besonders. Es kann sein, dass eine Verhaltensweise als „Das ist Neid“, gedeutet wird, aber der Zusatz, dass man gefälligst nicht neidisch zu sein hat und daher eine böser Mensch ist, fällt weg. Natürlich nicht beim Patienten, der bei einer Deutung nahezu unweigerlich das Gefühl hat, dass die Verurteilung: „Das ist Neid. Du sollst nicht neidisch sein. Du bist böse“, automatisch mitgemeint ist. Der Patient projiziert die letzten Aussagen zwar, aber wie bei allen Projektionen, merkt man es selbst nicht und kann, da der Therapeut das in der Regel durchhält, es irgendwann erkennen. „Das ist Angst.“ „Das ist entwertend.“ So geht es fröhlich weiter und wenn es gut läuft, stellt sich irgendwann das Gefühl ein, dass der Therapeut mich offenbar sehr gut kennt, aber mich dafür dennoch nicht verurteilt. Dies ist das Tor zu einer Art von Beziehung, die man nur in der Therapie findet. Deutung, ohne Bewertung, vor allem ohne Entwertung. Statt: „Du sollst nicht, du darfst nicht, du bist böse, schlecht und falsch.“