Die verhältnismäßig junge, wenngleich sehr intensive Forschung zur Dissoziativen Identitätsstörung fand bislang einige sehr aufschlussreiche Ergebnisse, insbesondere im Hinblick auf neurobiologische Korrelate im Gehirn bei einer multiplen Persönlichkeit. Eine Problematik in diesem Zusammenhang sind die geringen Fallzahlen bei den Studien, welche nicht der Seltenheit des Störungsvorkommens geschuldet sind, sondern vielmehr der Tatsache, dass häufig Fehldiagnosen in Zusammenhang mit dem gespaltenen Ich bestehen. Mit anderen Worten: Die DIS scheint durchaus regelhaft vorzukommen, wird aber bis dato eher selten diagnostiziert. Dabei sind eine präzise Diagnostik sowie eine darauf abgestimmte psychotherapeutische Intervention entscheidend für eine Verbesserung des Wohlbefindens dieser Patientengruppe. Doch wie erfolgt momentan die Diagnostik der Dissoziativen Identitätsstörung?
Diagnostik der Dissoziativen Identitätsstörung
Laut ICD-10 Version 2018 ist die multiple Persönlichkeit(sstörung) (F44.81) unter Sonstige dissoziative Störungen codiert, im DSM-V als dissoziative Identitätsstörung unter Punkt 300.14.
Gemäß Gast et al. (2001) wird die Dissoziative Identitätsstörung »als komplexe posttraumatische Störung angesehen, bei der frühkindliche sexuelle Traumatisierungen ätiologisch eine zentrale Rolle spielen.«
Folgende diagnostische Kriterien aus ICD-10 und DSM-V umschreiben zusammengefasst eine Dissoziative Identitätsstörung:
- zwei oder mehrere unterscheidbare Identitäten oder Persönlichkeitszustände innerhalb eines Individuums
- jede dieser Identitäten hat eigene Erinnerungen, Verhaltensweisen, Vorlieben, Persönlichkeitsmuster
- jeweils nur eine der Identitäten zu einem bestimmten Zeitpunkt nachweisbar
- Identitäten vollständig voneinander getrennt, typischerweise hat keine Identität Zugang zu den Erinnerungen der anderen oder ist sich der Existenz der anderen bewusst
- mindestens zwei der Identitäten/Persönlichkeitszustände übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person
- Wechsel zwischen Identitäten erfolgt plötzlich und ist mit traumatischen Erlebnissen verbunden
- Unfähigkeit, sich an persönliche Erlebnisse zu erinnern, die über gewöhnliche Vergesslichkeit hinausgeht
Differentialdiagnosen der Dissoziativen Identitätsstörung
Gerade bei der Dissoziativen Identitätsstörung sollte der Blick auf etwaige Differentialdiagnosen sorgfältig erfolgen, da Fehldiagnosen bei dieser allzu häufig auftreten und die Komplexität dieser psychischen Erkrankung eine passgenaue Intervention erfordert. Folgende Differentialdiagnosen sind in Anlehnung an MSD Manual und DSM-V zu berücksichtigen (nicht erschöpfend):
- organische Ursachen (z.B. komplex-partielle, nicht-epileptische Anfälle): Anfallzustände in der Regel nur von kurzer Dauer versus zeitlich andauernde Strukturen bei Identitäten und Verhalten der DIS
- Substanzeinwirkung (Drogen/Medikamente)
- andere dissoziative Störungen wie Dissoziative Amnesie, Dissoziative Fugue, Depersonalisationsstörung
- Schizophrenie und psychotische Störungen: Vorhandensein von mehr als einem Persönlichkeitszustand kann als Wahn fehlinterpretiert werden; innere Kommunikation als auditive Halluzination; visuelle, Tast-, Geruchs- und Geschmackshalluzinationen; Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung erscheinen diese Symptome, als wenn sie von jemand anderem kommen würden (z.B. als ob jemand anders mit ihren Augen weinen würde)
- Depressionen, bipolare Störung, Posttraumatisches Stresssyndrom, Angststörungen (z.B. aufgrund von Angsterleben hinsichtlich mangelnder Kontrollierbarkeit von Ich/Umwelt), Selbstverletzung, suizidales Verhalten, Borderline-Persönlichkeitsstörung
- Simulation (zitiert nach MSD Manual): »Simulation (das absichtliche Vortäuschen von körperlichen oder psychologischen Symptomen, durch äußere Reize motiviert) sollte in Betracht gezogen werden, wenn Nutzen ein Motiv sein könnte (z.B. sich der Rechenschaftspflicht für Aktionen oder Verantwortungen zu entziehen). Allerdings neigen Simulanten dazu, bekannte Symptome der Erkrankung hochzuspielen (z. B. dissoziative Amnesie) und andere zu verharmlosen. Sie neigen auch dazu stereotypische wechselnde Identitäten zu kreieren. Im Gegensatz zu den Patienten, die wirklich erkrankt sind, scheinen Simulanten in der Regel nur die Idee zu genießen, die Krankheit zu haben. Im Gegensatz dazu versuchen Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung oft, diese zu verbergen. Bei Verdacht auf Vortäuschung einer Erkrankung kann die Überprüfung von Informationen aus verschiedenen Quellen Ungereimtheiten aufdecken, die die Diagnose ausschließen.«
Klinisches Gespräch mit multipler Persönlichkeit
Die Diagnostik der Dissoziativen Identitätsstörung ist äußerst komplex, ebenso wie die Psychotherapeutischen Ansätze zur Intervention. Demzufolge kann analog zu den eben genannten diagnostischen Kriterien und Differentialdiagnosen in diesem Rahmen die therapeutische Intervention auch nur thematisch angerissen werden.
Im klinischen Gespräch kann der Arzt/Therapeut versuchen, Kontakt mit den anderen Identitäten aufzunehmen. So könnte er darum bitten, mit einer bestimmten Identität sprechen zu dürfen, welche zum Beispiel an bestimmten Handlungsweisen beteiligt war, an die sich der Patient nicht oder nur aus Sicht eines Draufblickenden erinnern kann.
Das »System« einer Dissoziativen Identität ist äußerst empfindsam und sehr ausbalanciert, um einen einigermaßen stabilen Umgang mit den erfahrenen Traumata und eine hohe Funktionalität im Alltag zu gewährleisten. Deshalb ist äußerste Behutsamkeit im klinischen Gespräch erforderlich.
Welche Persönlichkeitsanteile sind im Gespräch zu berücksichtigen?
In Anlehnung an Ursula Gast, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, treten folgende Persönlichkeitsanteile bei Patienten mit dissoziativer Identität häufig auf:
- »Alltagspersönlichkeit«: hohe Funktionalität, an Alltagsanforderungen und sozialer Normung angepasst
- »Kinder-Persönlichkeiten«: im Sinne »Emotionaler Persönlichkeitsanteile«; unter Einfluss schwerer Traumatisierungen entstanden, tragen Trauma-Erinnerungen eingefroren beziehungsweise verdrängt in sich
- »Kontroll-Persönlichkeitsanteile«: im Sinne von »Wächtern«/»Beschützern«; stellen sich schützend vor traumatisierte Anteile
- »Täter-loyale Anteile«: auch Täter-Imitatoren, die sich entweder täter-loyal verhalten, sich Wertesystem des früheren Täters unterwerfen oder sich so verhalten, als sei der Täter im Inneren weiter aktiv
Interventionsansätze bei Dissoziativer Identitätsstörung
Nach Ursula Gast sollten Interventionsansätze auf Folgendes abzielen:
»Sowohl psychodynamische als auch kognitiv-behaviorale Ansätze zielen darauf ab, abgespaltene Erinnerungen und Persönlichkeitsbereiche oder umfassendere Persönlichkeitsanteile wahrzunehmen, die damit verbundenen Affekte und Ängste auszuhalten und die Integration zu einem einheitlichen Selbstempfinden zu ermöglichen, so die Expertenempfehlung. Aus psychodynamischer Perspektive bedeutet dies die Entwicklung eines integrierten psychischen Funktionierens durch Überwindung von Konflikten, aber auch von Entwicklungsdefiziten, die aus den wiederholten Traumatisierungen entstanden sind. Die Lösung dieser Konflikte und Nachreifung der Defizite reduziert die Notwendigkeit, die dissoziative Abwehr aufrechtzuerhalten oder auszuagieren.«
Therapiebausteine
Da dissoziative Reaktionen im Allgemeinen als Schutzreaktion des Gehirns auf schmerzhafte Affekte zu werten sind, geht es in der therapeutischen Intervention unter anderem darum, spezifische Auslöser zu erkennen, sowie eine Sicherheit und Stabilisierung des Patienten zu gewährleisten. Damit verbunden wird die Selbstbeobachtung der Patienten geschärft. Ferner ist Ziel der Therapie, neben der Traumaaufarbeitung eine Integration der Identitätsanteile herbeizuführen, durch zunächst einmal Schaffung eines Co-Bewusstseins, Förderung der inneren Kommunikation und einer Gesamtverantwortung für die Handlungsweisen der Identitätsanteile.
Bei der Diagnostik der Dissoziativen Identitätsstörung genauso wie bei der Intervention ist ob der Komplexität der Störung höchste Sorgfaltspflicht vonnöten. Dazu gehört auch die bereits angesprochene Abgrenzung in den Differentialdiagnosen zum Beispiel zu anderen dissoziativen Störungen. Diese werden wir im nächsten Artikel eingehender betrachten.