Das gespaltene Ich und die Dissoziation als Schutzmechanismus kann aus psychologischer Sicht durchaus als Form der Selbsterhaltung interpretiert werden. Die Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung, wie sie bei Fleur vorliegt, wurde eine Zeit lang in der psychologisch-psychiatrischen Forschungswelt heiß diskutiert. Doch zweifelnde Stimmen werden zunehmend zögerlicher. Zum einen aufgrund der guten klinischen Dokumentation von Einzelfällen. Zum anderen aber auch, weil neurowissenschaftliche Befunde das klinische Bild einer Dissoziativen Identitätsstörung untermauern.
Insbesondere im Zusammenhang mit dem Verlust von Sinneswahrnehmung durch Dissoziation wurde im klinischen Kontext ein überaus interessanter Fall dokumentiert.
Der Fall »Ida«: Manche Anteile waren blind, manche sehend
Aufgrund schwerer Traumata in der Kindheit entwickelte Ida Kunze, deren richtiger Name selbstredend nicht veröffentlicht ist, eine Dissoziative Identitätsstörung beziehungsweise eine multiple Persönlichkeitsstörung. Darüber hinaus wurde bei ihr eine kortikale Blindheit diagnostiziert. Bei dieser, auch Rindenblindheit genannt, sind Augen sowie Nervus opticus intakt. Stattdessen ist die Blindheit auf eine Beeinträchtigung in der kortikalen Sehrinde zurückzuführen.
Nach Dokumentation des Münchner Psychotherapeuten Dr. phil. Bruno Waldvogel wurde die blinde Patientin aus einer psychiatrischen Klinik in seine psychotherapeutische Praxis zur fortführenden Behandlung überwiesen. Die Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung bestätigte sich auch im weiteren Behandlungsverlauf, da die Patientin während der Therapiesitzungen verschiedene Persönlichkeitsanteile zeigte. So konnte man sich, je nachdem, welche Identität gerade vorrangig war, nur auf Deutsch versus nur auf Englisch verständigen. Zurückgeführt wurde dieses Phänomen darauf, dass die Patientin einige Jahre ihrer Kindheit und Jugend in einem englischsprachigen Land verbracht und dort ausschließlich Englisch gesprochen hatte.
Im Laufe der Therapie konnte bei einzelnen Persönlichkeitsanteilen der Patientin eine sukzessive Heilung der kortikalen Blindheit beobachtet werden. Manche Identitätsanteile waren wieder sehend, andere wiederum waren weiterhin blind. Das Umschalten zwischen sehenden und blinden Identitätsanteilen erfolgte übergangslos.
Veröffentlicht wurde dieser Fall der »Ida Kunze« von Dr. phil. Bruno Waldvogel und anderen in der medizinischen Fachzeitschrift Nervenarzt des Springer Medizin Verlags.
Die klinische Beobachtung erlangt weitere Einzigartigkeit durch neurokognitive Befunde.
Aktivitätsmuster in Sehrinde variiert bei Anteilen
Beim EEG, der Messung der elektrischen Aktivität im Gehirn, zeigten sich bei der Patientin unterschiedliche neuronale Aktivitätsmuster in der Sehrinde in Abhängigkeit von der jeweiligen Identität, welche gerade im Vordergrund war. Waren die Identitäten blind, so konnten im EEG keine Aktivitätsmuster in der Sehrinde nachgewiesen werden. Mit anderen Worten: Die Informationsübertragung der visuellen Reize war auch im Gehirn nachweislich nicht erfolgt. Wohingegen die sehenden Identitätsanteile unauffällige neuronale Aktivitätsmuster aufwiesen, die so wie bei anderen Sehenden sind.
Die klinische Dokumentation von Waldvogel zeigt, dass sich durchaus psychophysiologische Korrelate bei dissoziativen Phänomenen finden lassen – was somit für die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung spricht.
Das gespaltene Ich: Neurobiologische Studien
Weitere neurobiologische Korrelate konnten beim Auftreten einer Dissoziativen Identitätsstörung und dem Abspalten von Identitätsanteilen gefunden werden. In einer Studie zeigten sich bei Patientinnen mit dissoziativen Störungen unter anderem spezifische Atrophien beim bilateralen Hippocampus, eine Gehirnregion, die mit der Gedächtnisbildung zusammenhängt. Damit in Einklang stehen die gefundenen Ergebnisse in der Metaanalyse von Smith (2005). In strukturellen MRI-Studien fand man ein vermindertes Volumen des bilateralen Hippocampus bei Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung. Auch die DIS (Dissoziative Identitätsstörung) tritt durch Traumata (in der Kindheit) auf.
Eine andere Gehirnregion, welche ebenfalls neurobiologische Veränderungen bei dieser Patientengruppe aufweist, ist die Amygdala. Als Teil des Limbischen Systems steht diese in Verbindung mit der Entwicklung von Ängsten und anderen Gefühlen.
Darüber hinaus ist interessant, dass Patientinnen mit einer geheilten Dissoziativen Identitätsstörung im Vergleich zu solchen, die nicht geheilt waren, ein größeres Hippocampus-Volumen aufwiesen. Demnach scheint es so zu sein, dass auch eine erfolgreiche Intervention bei DIS-Patienten Spuren im Gehirn hinterlässt.
Kontrollierte Emotionsregulation je nach Anteil
Reinders et al. (2003) fanden verschiedene Muster neurobiologischer Korrelate in Abhängigkeit von den jeweiligen Persönlichkeitsanteilen.
Häufig haben Personen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung einen oder mehrere Identitätsanteile ausgebildet, welche den Alltag bewältigen können. Im Gegensatz dazu können stark emotionale Persönlichkeitsanteile als Abspaltung existieren.
Reinders et al. fanden nicht nur unterschiedliche Herzraten und Blutdruckwerte je nach Identität, sondern auch eine unterschiedliche Hirnaktivität, wenn die Patienten mit traumatischen Erinnerungen konfrontiert wurden. So wiesen die funktionalen Identitätsanteile, welche den Alltag bewältigen müssen, eine stärkere Aktivität in inhibitorischen Bereichen des rechten mediofrontalen Kortex auf, im Vergleich zu den emotionalen Identitätsanteilen. Die Forscher schlussfolgern, dass die emotionalen Reaktionen auf bedrohliche Stimuli bei den funktionalen Persönlichkeitsanteilen gehemmt werden müssen, damit eine Bewältigung des Alltags überhaupt möglich ist.
Naheliegend ist, dass die Anzahl der Probanden solcher Studien verhältnismäßig gering ist, da zum einen die Forschung diesbezüglich noch relativ jung ist. Zum anderen scheint es bei der Dissoziativen Identitätsstörung häufig Fehldiagnosen zu geben und die eigentliche DIS bleibt offenbar häufig unentdeckt.
Geringe Fallzahlen in Studien
Studien zur Dissoziativen Identitätsstörung gehen von einer Prävalenz von 0,5 bis einem Prozent in der Gesamtbevölkerung aus, sowie fünf Prozent in stationären psychiatrischen Patientenpopulationen. Das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Betroffenen mit einem gespaltenen Ich liegt bei 9:1. Wie die Studien zeigen, scheinen häufig Fehldiagnosen in Bezug auf eine unentdeckte Dissoziative Identitätsstörung vorzuliegen. Komorbiditäten mit anderen Erkrankungen können vorhanden sein, deren Symptome stärker in Erscheinung treten, sodass die zugrundeliegende Dissoziative Identität im klinischen Kontext nicht (sofort) erkannt wird. Erschwerend für den Diagnostiker kommt hinzu, dass funktionale Anteile der multiplen Persönlichkeit den Alltag bewältigen, welche gut angepasst und wenig auffällig sind.
Tragisch in dem Zusammenhang ist vor allem, dass der Leidensweg der Betroffenen mit dissoziativer Identität dadurch verlängert wird, da ihnen eine adäquate klinische Intervention nicht zuteil wird. Wie die klinische Diagnostik in Bezug auf das gespaltene Ich ist und welche Therapieansätze zum Tragen kommen, zeigt der nächste Teil unserer Serie zu Dissoziativen Störungen.