… und vieles schwieriger
Denn das Leben wird als vergleichsweise kompliziert empfunden. Depressionen, Burnout und Ängste sind Krankheiten unserer Zeit mit den Möglichkeiten des Selbstmanagements steigt natürlich zugleich auf die Verpflichtung das Leben auch selbst zu managen. Bekam man bis in die jüngere Vergangenheit das Fernsehprogramm noch vorgesetzt und richtete zum Teil sein Leben danach aus, sind diese Zeiten vorbei. Die Formate sind mehr geworden und über Mediatheken und zusätzliche Bezugsquellen allzeit verfügbar, die Stars der Zeit kommen nicht nur aus dem Fernseher, sondern aus der Online-Welt. Manche machen ganze Serienwochenenden zum privaten Ritual, aber so schön das sein mag, es vereinzelt auch ein wenig, denn schon der Nachbar hat möglicherweise völlig andere Interessen. Es fehlen ein Stück weit die gemeinsamen Themen.
Galt das Private zunächst als vorrangig, so hing dieses zum großen Teil am materiellen Erfolg und für sich das zu tun, hieß zugleich für sein Land etwas zu tun, denn der materielle Wohlstand kam allen zugute. Doch mehr und mehr traten andere Themen, solche der sozialen und ökologischen Verantwortung langsam ins Bewusstsein. Auch das hatte man folglich zu beachten, erst noch als sektiererische Spinnerei abgetan, wurden diese Themen mehr und mehr zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen.
Doch damit nicht genug. Zu den gesellschaftlichen Großthemen kam die private Verantwortung noch hinzu und neben der neu zu definierenden Rolle der Geschlechter, der Sexualität, der ehemaligen Randgruppen kam allerlei mehr. Aus dem Selbstmanagement wurde Schritt für Schritt die Selbstoptimierung, mit ihren perfektionistischen Zügen. Wurde früher darauf geachtet, ob der Rasen gemäht, die Wäsche weiß und mit wie viel Eimern Wasser das Treppenhaus geputzt wurde, ist der Grad der Selbstoptimierung und -inszenierung heute viel größer geworden.
Den Alltag zu bewältigen ist mehr und mehr zur logistischen Großtat geworden und nicht selten ist man ein Opfer der eigenen Träume geworden, die insofern in den Himmel wuchsen, als man meinte, auf vieles was althergebracht war oder auch nur so schien mit leichter Hand verzichten zu können, hatte es doch den Mief des Reaktionären. So bekam man dann immer mehr aufgeschaufelt und vom Virenupdate bis zur Rente, hat man nun selbst dafür zu sorgen, dass alles wie am Schnürchen läuft. Fristen, Verträge, Mails, all das hat man zu beachten und soll natürlich pfiffig sein, denn die Möglichkeiten dazu gibt es. Hier ein Schnäppchen, da ein Restposten, Lagerverkauf hier, Onlineauktion da, vielleicht optimiert man die eigene Rente noch mit ein paar Aktien, die man natürlich klug und bunt mischt, man kann sich ja in alles einarbeiten, alles kein Problem. Oder doch?
Was man alles als Schulfach einführen sollte
Wenn mal anschaut, was man alles als Schulfach einführen sollte, weil es heute als ungeheuer wichtig gilt, hat man eine Ahnung, dass das Selbstmanagement mit nur einfach ist: Wirtschaftskenntnisse, Programmieren, mehr Bewegung, Ernährung, Versicherungen, Internetkompetenz sind nur einige Kandidaten, nebst der Tatsache, dass man heute Essen, Einkaufen und Fortbewegung immer auch Statements sind, über vieles muss man nachdenken, kennt 64 statt 2 Geschlechter, muss eine Meinung zu TTIP, der Globalisierung, Flüchtlingen und der Demokratie haben, inklusive ökosozialer Verantwortung, eine Reise ist nicht einfach nur noch eine Reise, daneben noch die flotte WhatsApp Gruppe. Da Mann und Frau heute, je nach Sicht, arbeiten dürfen und oft müssen, ist das mit der Kindererziehung so eine Sache, da man für die Karriere auch weiterhin selbst verantwortlich ist.
Man zeigt, was man hat, auch heute. Nur anders eben, auf seiner Website, sei es beruflich oder seinem Social Media Account oder subkulturell, wenn es um die neue Gestaltung des Sexuallebens geht. Längst nichts mehr für die Schmuddelecken oder einschlägigen Rotlichtbezirke. Seit man sich nicht mehr heimlich in Bahnhofskinos oder Videotheken stehlen muss, hat die Zahl der konsumierten Pornofilme um den Faktor 700(!) zugenommen. Auch in der Subkultur gibt es neue Regeln und Möglichkeiten, wie Datingportale für den schnellen Sex, was Affären leichter und das partnerschaftliche Leben komplizierter macht.
Ein Komplexitätsgrad im Leben, der äußert hoch ist, selbst wenn die Bedürfnisse nach Anerkennung, Sexualität und Kontakt alt geblieben sind. Wie ein Jongleur beim Multijobbing vielleicht besser seinen Neigungen nachgehen kann, kommt irgendwann mal der Punkt, wo aus Chancen, Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten einfach Stress wird. Jedenfalls für einige.
Die 1950er als Gegenentwurf
In einer Mischung aus klischeehaft, verkitschter Romantik und echter Sehnsucht avancieren die 1950er als Retromodell der Zukunft. Man will zurückspulen in eine Zeit, in der alles noch einfach war, etwa das Rollenmodell. Er bei der Arbeit, sie im Haushalt. Doch da ist auch die Sehnsucht nach einem einfachen, naturnahen Leben, wie es klassischerweise von eher linken Ökos propagiert wurde und heute auch auf eine neurechte Bewegung im breiteren Stile übergeschwappt ist. Ein Wunsch nach einem sinnerfüllten Leben, verbunden mit der eigenen Scholle oder eben regio. Ein körperbetonteres Leben, in dem Kinder einfachste Dinge des Alltags, wie Kochen, Klettern, Knopf annähen wieder lernen. Ein Leben was in unserem Wertevakuum, in dem man oft nicht weiß, wofür man eigentlich lebt, außer, dass man weiter macht um immer weiter zu machen, wieder etwas wie Werte und Orientierung findet.
Tatsächlich wären Werte etwas, das die Vielfalt der Regeln sortieren könnte. Sonst müssen wir das selbst tun. Wir sind Helden des Alltags, weil uns das in einer erstaunlichen Mehrheit gelingt, aber diese logistische Meisterleistung ist anspruchsvoll, so anspruchsvoll, dass es doch immer mehr gibt, die nicht mehr mithalten können. Es ist an sich kein schöner Zug die Abgehängten achselzuckend als Unterschicht geistig und emotional zu entsorgen, doch ist es auch längst nicht mehr allein die Unterschicht, die es trifft.
Man mag uns vorrechnen, dass wir mehr Zeit haben, als je eine Generation davor, dass es uns gut geht wie nie, doch dieses „uns“ reißt nicht mehr mit, ist brüchig geworden, das „Wir“ ist kaputt. Noch immer kommt die Mehrheit mit dem Leben heute gut klar, einige genießen die Freiheit, die sie haben, doch die Minderheit, die ausgeschlossen ist, wird größer und betrifft auch ehemalige Leistungsträger, die sich übernommen haben, Helden, die an und in ihrem Alltag gescheitert sind. Es gibt zudem eine wachsende Anzahl von Menschen, die aus prinzipiellen Gründen meinen, dass das System in dem wir leben, fragwürdig ist.
Helden des Alltags und ihre Weggefährten
Den Alltag in einer Kultur bestehen zu können, sah schon Sigmund Freud zurecht als eine bedeutende Herausforderung an. Das ist nun etwa 100 Jahre her und seit dem ist unser Leben in einigen Bereichen deutlich leichter, in anderen aber auch deutlich komplizierter geworden. Für den notwendigen nächsten Schritt sind die theoretischen Vorarbeiten bereits geleistet und er sieht auf den ersten Blick etwas paradox aus. Das empfindsame Selbst (dem wir im Rahmen der Serie: Die Entwicklungsstufen der Weltbilder demnächst einen eigenen Beitrag widmen) hat sich in gewisser Weise zu Tode gesiegt, anders gesagt, es muss noch ein wenig komplexer werden um dann, in einem nächsten Schritt, sich und anderen erlauben zu können, die eigene Welt wieder etwas weniger kompliziert und unverkrampfter zu gestalten. Man muss ein Stück nach vorne gehen, um zurück gehen zu können.
Anders gesagt, ist das regressive Modell, was einigen als Lösung vorschwebt, falsch. Es ist, wie so oft in der Psychologie etwas paradox. So wie es in der Psychoanalyse die Regression im Dienste des Ich gibt, in der man sich die Vergangenheit noch einmal anschaut, um sie hinter sich lassen zu können, muss das empfindsame Selbst noch einen Schritt weiter gehen, um die eigene Vergangenheit wieder schätzen zu können und konstruktiv konservative Ansätze liebevoll umarmen zu können. Das heißt gleichzeitig auch die mitzunehmen oder wenigstens ernstzunehmen, die man vergessen oder bekämpft hat.
Das kann für diejenigen, denen es gelingt diesen Schritt zu gehen und für die Gesellschaft insgesamt ein Stück weit Entspannung bedeuten. Doch bis das der Fall ist, müssen noch einige dicke Bretter gebohrt werden und ein Teil der Problematik liegt darin, dass die Bevölkerung unterschiedlich weit entwickelt ist. Auch auf diesen Aspekt werden wir die Lupe genauer halten. Bis der nächste Schritt in etwas breiterer Form gegangen wird, ist es gut, einen Moment inne zu halten und sich klar zu machen, dass die meisten von uns eine sehr komplexe Leistung vollbringen, wenn sie einfach nur normal sind.
Freuds Ziel war nicht umsonst den Menschen wieder liebes- und arbeitsfähig zu machen, weil er wusste, dass hier ein Leben in Eigenregie beginnt und dass es alles andere als leicht ist, im Alltag zu bestehen. Der Titel Wir sind Helden des Alltags war nicht leichtfertig gewählt.