Soziale Kompetenz

Ludwig Erhard

Ludwig Erhard, in jeder Hinsicht ei Repräsentant des Wirtschaftswunders im Nachkriegsdeutschland, in dem man stolz auf das war, was man hatte. © Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 / Adrian, Doris under cc

Soziale Kompetenz nennt man die Fähigkeit sich in diesem Wust von ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln zurecht zu finden. Wir sind Helden des Alltags, weil wir in den allermeisten Fällen dieses Regelwerk beherrschen und uns seinen Umfang gar nicht recht bewusst machen. Für uns ist es irgendwann einfach normal ständig umzuschalten, ob man einkauft, Nachbar ist, Mutter, Angestellte, Freund, Straßenverkehrsteilnehmer und natürlich sich in Online-Foren oder Social Media Gruppen bewegt, die wieder ihre eigene Dynamik haben.

So vielseitig und facettenreich die einzelnen Segmente auch sind, ebenso geregelt sind oft Vorstellungen von der gelungenen Gesamtbiographie oder einzelner Abschnitte daraus. Gerade in Deutschland ist es schwer, die einzelnen sozialen Milieus zu verlassen, entgegen dem, was man glauben sollte und möchte. So wird das Schicksal der Kinder oft durch die Schichtzugehörigkeit der Eltern mitbestimmt. In der Akademikerfamilie ist vergleichsweise klar, dass auch die Kinder Karriere machen werden, während Empfehlungen für höhere Schulen Arbeiterkindern oft verwehrt bleiben.

Dazu gehört neben der sozialen Einordnung durch die Umgebung, oft auch eine prinzipielle Erfolgs- oder Misserfolgsorientierung der Eltern. Wenn ein Kind aus der Unterschicht sich doch aufs Gymnasium verirrt und dort Schwierigkeiten bekommt, sind die Eltern oft geneigt, es sofort von der Schule zu nehmen, die Sache scheint klar: man hat’s versucht, es ist eben nichts für unser Kind, Schuster, bleib bei deinen Leisten. Wenn anders herum das Kind aus sozial höheren Kreisen dieselben Leistungen bringt und Schwierigkeiten hat, sind die Eltern oft der Auffassung, dass das nur ein momentaner Durchhänger ist, das Kind sich aber sicher sehr bald wieder fangen wird. Das ist eine ganz andere Grundstimmung, die viel ausmacht.

Doch auch diese Unterscheidung zwischen Erfolgs- oder Misserfolgsorientierung folgt einem inneren Drehbuch, dessen stille Regeln wir verinnerlicht haben, die uns auch noch ‚vorschreiben‘, wo wir richtigerweise einkaufen: Großfraktion Bioladen oder Discounter, auch hier mit Brüchen und Zwischenstufen.

Noch die scheinbar privatesten Bereiche sind gesellschaftlich geregelt. Wenn wir krank werden, lautet eine stille Übereinkunft, dass man Kranke, ja nach Grad ihrer Erkrankung in vielerlei Hinsicht schont und man sich zudem um andere Dinge, wie lästige Besuche oder Unternehmungen herumdrücken kann, der sogenannte sekundäre Krankheitsgewinn. Auch das ist wiederum ein Drehbuch mit vielen komplexen Unterkapiteln, in einigen Kreisen gehört es fast schon zum guten Ton, dass man auch krank zur Arbeit geht und Kolleginnen die „auf Psyche/Rücken machen“, sind gerade noch geduldet, wenn sie zur angemessenen Zeit wieder funktionieren. Auch wie man richtig krank ist gehört zur stillen Choreographie. Die Antizipation gesellschaftlicher Erwartungen ist zwar verschieden ausdifferenziert, gehört aber zu den Basics psychosozialer Erwartungen. Nichts anderes ist die bekannter Realitätsprüfung, die Menschen mit akuter Psychose nicht bestehen.

Der Umgang mit den Regeln

Hier können und sollen nicht alle Regeln des Alltags aufgeführt werden. Sinn und Zweck dieses Beitrags ist nicht eine vermeintliche Überregulierung zu kritisieren, sondern, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was es bedeutet, an einen so komplexen Konstrukt wie dem banalen Alltag teilzunehmen und teilnehmen zu können. Das ist nicht irgendeine Leistung, sondern eine konstante Höchstleitung, an der viele scheitern, nicht nur Menschen mit irgendwelchen Einschränkungen, sondern auch gerade jene, die als in Teilen hochbegabt oder gar als Genie gelten.

Die Spannung zwischen kognitiver oder kreativer Höchstleistung und schroffen Brüchen zum Alltag ist altbekannt. Nicht nur der schrullige Professor, den irgendwie jeder kennt, der im Alltag unbeholfen und etwas ungelenk wirkt, auch das Wunderkind Mozart ist ein populäres Beispiel des kreativen Genies mit merkwürdigem Sozialverhalten. Der Bogen reicht bis zur uralten Anekdote des Philosophen Thales, der in dieser von einer Magd verspottet wurde, weil er zum Himmel schaute und dabei in einen Brunnen stürzte, also das Ferne sah und das was vor seinen Füßen lag nicht erkannte, was die Situation vom wirren Spezialisten in den Kanon einführt.

Gar nicht so selten findet man auch heute noch Menschen, die im alltäglichen Leben Schwierigkeiten haben, aber auf einigen Gebieten zu Höchstleistungen fähig sind. Im extremen Fall sind das sogenannten Inselbegabungen oder Savants, die geradezu darüber definiert sind mit dem Alltag nicht klarzukommen, dafür aber isolierte Spitzenleistungen zu bringen. Fast kann man den Eindruck haben, dass Spitzenleistungen auf bestimmten Gebieten mit Einbußen auf anderen zusammengehen, aber es gibt auch Ausnahmen von der Regel. Der Umkehrschluss ist allerdings meistens falsch. Nicht jede Schwierigkeit im Sozialverhalten ist automatisch ein Indikator für eine Hochbegabung, diese sind und bleiben hochgradig selten, aber dennoch vollbringen wir alle im Alltag großartigere Leistungen, als wir selbst glauben, weshalb der Ausdruck Helden des Alltags kaum überzogen ist.

Vieles ist heute einfacher geworden …

Die Welt hat sich verändert. Das tut sie eigentlich ständig, weshalb diese Aussage banal ist, aber sie tut es schneller und die parallele digitale Revolution durchzieht zudem noch alle Lebensbereiche. Das hat vieles vereinfacht und vieles erst ermöglicht, manches aber auch komplizierter gemacht. Wie in Generationenfragen und Geschehen die Veränderungen in der Welt zu schnell? schon breiter ausgeführt, haben sich die Ziele und Einstellungen geändert. Vieles drehte sich vorher um den häuslichen und familiären Bereich und war von der Zuversicht gespeist, dass die nächste Generation es mal besser haben soll und wird.

Wissenschaftliche und technische Neuerungen bedeuteten fast direkt Erleichterungen des Lebens, es gab eine Fortschrittseuphorie, die fast alle Schichten durchzog. Es gehörte zum guten Ton, mit Stolz zu zeigen, was man hat, die Statussymbole waren der dicke Bauch, die dicke Zigarre, das eigene gute Auto und Haus und die schicke Einrichtung, wenigstens auf schick gemacht.

Die Geschlechterrollen der damaligen Zeit waren mitunter äußerst klischeehaft, was heute unfreiwillig komisch anmutet, so galten als Muttis größte Träume damals, dass es der Familie schmeckt, die Wohnung sauber und die Wäsche weiß ist. Das Wirtschaftswunder wurde von dem nächstem großen gesellschaftlicher Bruch abgelöst, der 68er Bewegung, die viel Licht und auch einigen Schatten brachte, nicht umsonst wünschen sich konservative Kräfte mitunter die 50er Jahre zurück, in denen die Welt noch heil und überschaubar schien.

So simpel manches damals klang und so nachvollziehbar der Wunsch war, etwas daran zu ändern, so klar waren doch auch die Ziele der damaligen Zeit. Mit Stolz zu zeigen, was man hat und dass man es geschafft hat, gilt heute eher als prollig bis obszön, obwohl die Statussymbole sich nur verändert haben. Deutschland bleibt ein Land der Klassen, das sozial sehr undurchlässig ist. Es gehört ebenfalls zum guten Ton so zu tun als wisse man das nicht, oder sei zumindest empört darüber, wobei man gleichzeitig oft nichts dagegen hat, wenn alles bleibt, wie es ist.