Wie viele Personen auf Dating-Plattformen tätigen dort wohl verfälschte Angaben? Etwa bei der Körpergröße, den Hobbys wie Surfen, Yoga oder bei Opernbesuchen, die Regelmäßigkeit suggerieren. Wie viele retuschierte Avatare versprechen sich gegenseitig einen entzückenden Anblick, bis man sich im realen Leben trifft? In der Hoffnung, man würde bis dahin die inneren Werte des anderen zu schätzen wissen, schleicht der Optimierungswahn durch unser aller Leben. Jedoch darf dabei eines nicht außer Acht gelassen werden: Man muss unbedingt und auf alle Fälle (!) man selbst sein. Man selbst bleiben. Darf sich unter keinen Umständen aus den Augen verlieren. Authentizität gilt als Wert des neuen Jahrtausends. Und nie zuvor hat unser eigenes Ich soviel Aufmerksamkeit bekommen wie in der heutigen Zeit.
Man selbst sein: Sich optimieren zum Wohle des Ichs
Galt der Mensch ursprünglich als Ermüdungsjäger, der es dank seiner Temperaturregulation schaffte, über mehrere Stunden das arme Vieh zu Tode zu hetzen, muss es heutzutage das Runner’s High für ein optimales Wohlfühlergebnis beim Joggen sein. Aufenthalte in fernen Ländern dienen nicht der bloßen Sammlung von Eindrücken, vielmehr zeugen sie von Aufgeschlossenheit, jugendlichem Esprit und ein wenig Wohlstand, optimal für den Aufstieg zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft. Ernährung entspricht nicht mehr der profanen Sättigung, eine optimale Zusammensetzung und Zuführung der richtigen Nährstoffe (selbstverständlich reguliert über eine App) bringt höchstmögliche Leistungsfähigkeit.
Der Körper als Haus, mit einer sauberen Fassade, einem gepflegten Vorgarten und dem individuellen Mobiliar, das im Inneren wohlige Wärme erzeugen soll. Etwaige Lücken im perfekten sattgrünen Rasen werden ausgebessert, nicht nachgesät, denn jenes dauert zu lang, oft helfen ein sauberer Schnitt und Aufpolsterung. Aber was wäre, wenn die häusliche Harmonie trotz aller Bemühungen ausbliebe?
Selbstentfaltung oder Die Freiheit, sich selbst zu knechten
Selbstverwirklichung wird bis ins Unendliche getrieben. Selbstentfaltung ist übergegangen in die Freiheit, sich selbst zu knechten. Ein Jeder sucht seine »authentische« Mitte und allzu oft scheint es eine Erschöpfung darüber zu geben, »man selbst sein zu müssen«.
Aber eigentlich müssen wir bei der Suche nach uns selbst viel früher ansetzen. Beim Blickwinkel. Denn Narzissmus bringt uns nicht weiter. Jede Aufmerksamkeit, die man dem eigenen Ich schenkt, gleicht heutzutage oft einer Inszenierung. Dennoch versichern wir uns selbst genauso wie dem anderen, authentisch zu sein. Aber entspricht nach der Arbeit noch zum Yoga zu hetzen und im Anschluss bei einem Glas Wein auf dem Sofa zu entspannen, wirklich uns selbst? Ist es nicht vielmehr so, dass wir nur glauben – hoffen -, dadurch man selbst sein zu können? Sich endlich spüren zu können. Wir leben die Erfüllung von Klischees, sogar in der Freizeit, die doch eigentlich uns gehört. Und haben den Draht nach innen verloren. Demgegenüber hilft uns das Feedback von anderen dabei, man selbst sein zu können – hoffen wir jedenfalls. Sozusagen eine Rückversicherung in Bezug auf die Authentizität der eigenen Person. Unnötig! Doch worin liegt der Schlüssel der tatsächlichen Unabhängigkeit?
Ist Weltzentrierung der Schlüssel zur Unabhängigkeit?
Man stelle sich eine Person vor, welche dem Darstellungsreichtum des alltäglichen Lebens nur ein müdes Lächeln abringen kann. Eine Person, die sich in Situationen zurücknimmt und die andere Mitwirkende aus der Sicht eines Betrachters an sich vorbeispielen lässt. Nicht etwa aus einer Schüchternheit heraus. Sondern weil diese Person selbstbewusst die Einschätzung vertritt, dass sich nur durch Beobachtung lernen lässt, und nicht dadurch, dass man die anderen von der eigenen Wahrheit – vom eigenen Ich – überzeugt.
Kollektivismus versus Individualismus
Das Wohlergehen der Gesellschaft als oberste Priorität im Gegensatz zu den vorrangigen Interessen des eigenen Ichs. Versteht man beide Wertesysteme als Kontinuum, lässt sich aus der richtigen Mischung durchaus der optimale Weg für die Zukunft ableiten. Das nur kurz andauernde Hoch des Narzissmus scheint bereits wieder vorbei zu sein. Empathie ist auf dem Vormarsch, weil sie nie aufgehört hat, aus der »Mode« zu sein.
Denn eines ist gewiss. Wir dürfen uns nicht länger funktionalisieren lassen, indem man uns mit Konsum, Werbe-, Ernährungs- und Lebensidealen vom Wesentlichen ablenkt und dafür sorgt, dass wir uns besser als alle anderen fühlen. Wie wäre es stattdessen damit, weniger zu arbeiten, damit man die Entspannung gar nicht bräuchte? Wir dürfen uns nicht gegeneinander aufhetzen lassen, anstatt die Standespyramide einfach mal nach oben zu blicken, um zu sehen, welcher Krieg auf dieser Erde tatsächlich tobt: Arm gegen Reich. Where’s the Revolution?
Der Mensch als Hüter des Lebens
Vielleicht also ist eine eher weltzentrierte Sichtweise anstatt einer Zentrierung auf sich selbst der Schlüssel zum tatsächlichen Wohlgefühl und dem individuellen Lebensglück. Dann gäbe es auch keine Erschöpfung darüber, man selbst sein zu müssen. Keine Gefahr, sich selbst zu verlieren. Stattdessen würde eine Generation von Menschen existieren, die sich vor allem durch das, was sie tun, auszeichnen, und nicht durch das, was sie glauben zu sein. Die Anerkennung durch andere ist selbstredend ein großer Antrieb. Das war schon zu allen Zeiten so. Was heutzutage allerdings neu ist, ist die Anerkennung für Nichts. Die gegenseitige Versicherung, dass man gut so ist, wie man ist. Das Ernten von leeren Likes auf Social Media-Ankündigungen, die kaum mehr ihren Namen verdienen. Kognitive und emotionale Ressourcen verkümmern, weil wir ihnen nicht mehr genügend Aufmerksamkeit schenken. Dabei sind wir Menschen soviel mehr als das. Wir sind die Hüter des Lebens. In der irdischen Schöpfungsgeschichte, wenn nicht sogar im ganzen Universum, einzigartig. Es gibt genug zu tun auf der Erde und darüber hinaus, also packen wir es an!