Die Ärzte sagen, er sei unheilbar krank. Sie prognostizieren ihm keine Überlebenschance. Aber sein Leben sei noch nie normal verlaufen, widerspricht der Schriftsteller und examinierte Altenpfleger Bernhard Giersche. Auszüge aus seinem Krebstagebuch:
„Montag. Tag zwölf nach neuer Zeitrechnung. Gestern habe ich das erste Mal weinen können. Ich meine so richtig. Eigentlich wollte ich das gar nicht, ich will dem Unheil in mir gegenüber keine Schwäche zeigen.“

Bernhard Giersche: Wenn sich von einer Sekunde zur anderen das Leben komplett ändert. Foto © Der Patriot Lippstädter Zeitung
Vor wenigen Tagen erhielt Bernhard Giersche die Diagnose Krebs im Endstadium. Überlebenschance gleich Null. Von einer Minute zur anderen wurde aus dem lebensbejahenden, 49-jährigen Mann ein Patient, der mit dem Tode ringt. Der Autor wagt den Schritt in die Öffentlichkeit. Er schreibt ein Krebstagebuch. Seine Facebook-Einträge erreichen immer mehr Menschen. Sie nehmen Anteil an seinem Schicksal, hoffen und bangen mit ihm – und folgen gedanklich seinem persönlichen Weg:
„Krebs ist ein feiger Hund. Dachte ich früher an Krebskranke Menschen, sah ich vor dem inneren Auge gelbliche Menschen mit eingefallenen Wangen und glasigem Blick. Menschen die sehr dünn waren, fahrig und wegen der Chemotherapie alle Haare verloren hatten. Menschen, die voller Schmerzen waren und denen die körperliche Qual tiefe Falten in das Gesicht geprägt hatten. Die zu schwach zum Sitzen waren. Die nur noch leise sprachen und sich verschlucken. Menschen, die hoffnungslos ins Leere blickten, darauf wartend, nein, hoffend, dass sie endlich erlöst werden. Die in abgedunkelten Zimmern schliefen. in dem es nach Desinfektionsmitteln roch.
Jetzt bin ich einer von ihnen. Ein an absolut tödlichem Krebs erkrankter Mann von 49 Jahren. Überall in meinem Körper wuchern entartete Zellen, befallen meine Organe, meine Knochen. Ich blicke auf meinen Bauch und sehe nicht, was unter der Hautschicht abgeht. Sechs Zentimeter groß sei der Tumor auf der Bauchspeicheldrüse. Die auf der Leber bis zu 4 Zentimeter. Im Gallengang tummelt sich das Hauptkarzinom und streut fleißig ins Bauchfell und die Lymphsysteme. Davon kann man allerdings nichts sehen. Ich esse, wie ich immer gegessen habe, laufe, stehe und wurstle herum. Habe meine Haare noch und dank des Methadons kaum Schmerzen. Ich habe etwas Probleme mit dem Wasserlassen, aber das ist für Männer in meinem Alter nichts Besonderes. Kreislauf und Blutdruck sind in Ordnung und sogar meine Leberwerte sind klasse. Ich lache, weine und bewege mich wie früher. Früher? Damit ist die Zeit von vor drei Wochen gemeint. Als ich Karl, das Karzinom schon längst als Untermieter hatte.“
Unheilbar krank: endgültig?
Giersches Gedanken wechseln zwischen lähmender Todesangst und Hoffnung. Die Worte des Chefarztes der Onkologie hämmern fortwährend durch seinen Kopf:
„Sie müssen schnell ihre Dinge regeln. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Sie leben noch zwischen sechs und neun Monate. Handlungsfähig sind Sie vielleicht noch sechs Wochen.“

Bernhard Giersche kämpft gegen den Krebs: mit Chemotherapie und Methadon. Foto © Bernhard Giersche / privat
Etwa anderthalb Jahre ist es her, als der Autor sich aufgrund starker Rückenschmerzen in ärztliche Obhut begab. Eine Odyssee begann. Behandlungen, Rehaklinik, doch die eigentliche Ursache wurde nicht gefunden. Als er mit extremen Oberbauchschmerzen ins Krankenhaus kam, diagnostizierte man ihm eine Gastritis. Doch sein Hausarzt blieb skeptisch. Weitere Untersuchungen, Diagnosen, bis die Ursache feststand: Gallengangkrebs, weit fortgeschritten.
Nachdem Giersche die Diagnose erhalten hatte, schreibt er:
„Die Tage danach waren wir ein Stück weit paralysiert. Internetrecherche bestätigte die Prognose gnadenlos. Dann der Kampf um das Methadon. Meine einzige winzige Hoffnung, den Scheiß zu überleben…zumindest länger als die prognostizierten sechs Monate.“
Bernhard Giersche und seine Frau Gisela geben nicht auf. Denn: „Unkraut vergeht nicht“, wie Giersche einmal in Bezug auf seine Namensähnlichkeit zur Pflanzenart (Giersch) schrieb. Er und seine Gisela kämpfen für ein gemeinsames Leben. Ein erster Schritt auf ihrem Weg ist der Wunsch nach einer Zusatzbehandlung durch Methadon, welches in Bezug auf die Effekte der Chemotherapie unterstützend wirken kann.
Methadon als Mittel zur Krebstherapie
Methadon wurde bisher vor allem gegen körperliche Entzugserscheinungen bei Heroinabhängigen eingesetzt. In den vergangenen Jahren ist es jedoch als potentielles Krebsmedikament in den wissenschaftlichen Fokus gerückt (Deutsche Krebshilfe, 2014). Im Jahr 2008 zeigten erste Forschungen, dass Methadon Leukämiezellen in den Zelltod treiben kann. Mittlerweile gelang Wissenschaftlern am Universitätsklinikum Ulm unter der Leitung von Dr. Claudia Friesen ein Durchbruch bei der Behandlung von Glioblastomen, den häufigsten bösartigen Hirntumoren bei Erwachsenen, welche als unheilbar gelten (Deutsche Krebshilfe, 2014). Es zeigte sich, dass die zusätzliche Gabe von Methadon bei einer Chemotherapie deren Wirkung um bis zu 90 Prozent verstärkt. Dr. Friesen ist zuversichtlich: „Wir wollen Methadon als Unterstützer und Verstärker der konventionellen Chemotherapie in den klinischen Alltag einbringen. Methadon erhöht den Therapieerfolg signifikant, überwindet Resistenzen und greift gesunde Zellen nicht an.“ (zitiert nach Deutsche Krebshilfe, 2014)
Für als austherapiert geltende Patienten wie Bernhard Giersche eine unglaubliche Option. Weitere zusätzliche Zeit könnte ihm geschenkt werden. Seiner Beharrlichkeit und der Unterstützung einiger Ärzte hat er es zu verdanken, dass Methadon nun auch in seiner Behandlung zum Einsatz kommt.
Er schreibt:
„Dann ist es gut, dass ich meinem Wahlspruch: ‚Geht nicht, gibt’s nicht‘ noch nicht abgeschworen habe, denn ich habe nun, da ich diese Zeilen schreibe, alles in trockenen Tüchern. Und neben meinem Kampf um mein Leben werde ich die verbleibende Energie darauf verwenden mein ‚Maul aufzumachen‘ und so vielleicht im Kleinen Prozesse in Gang zu setzen, die es ermöglichen, einen neuen, reiferen Weg zu gehen. Haltet mich gerne für größenwahnsinnig oder durchgeknallt. Ich habe Krebs, ich darf das !!!!“
Ärzte: Zeit für einen neuen Eid

Fuck Cancer: Mit allen Mitteln! (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © Cristian Borquez under cc
„Hippokrates wusste noch nichts von Individuellen Gesundheitsleistungen“, schreibt Harro Albrecht für ZEIT ONLINE (2015) in einem Artikel. Patienten glauben sich in guten Händen. Doch so manches Mal scheint dies nicht der Fall zu sein. Einige Ärzte würden die „fremde Logik der Ökonomie“ zu ihrer eigenen machen, sagt der Medizinethiker Giovanni Maio (zitiert nach ZEIT ONLINE, 2015). Aufgedeckte Arzt- und Krankenhausskandale sprechen dafür.
Obwohl bereits 2008 erste Forschungen auf die positive Wirkung von Methadon hinwiesen und einige Forscher wie Dr. Friesen sich für Studien stark machten, finden erst jetzt durch den Druck der Öffentlichkeit und der Deutschen Krebshilfe verstärkt weiterführende Studien statt. Über die Gründe kann man nur spekulieren, denn Methadon ist ein verhältnismäßig günstiges Medikament mit einem offenbar starken Effekt (ARD, 2017). Ein Widerspruch in der Logik der Ökonomie?
Giersches Kampf ums Methadon
Als es um den Einsatz von Methadon ging, gab es auch bei Bernhard Giersche Gegenwind – dem er trotzte. Er kämpft für sich und andere, für Hoffnung, Gesundheit und ums Überleben. Der engagierte Autor zieht sich nicht zurück oder bemitleidet sich nicht selbst. Bei Facebook und in der Lippstädter Tageszeitung „Der Patriot“ schreibt Giersche sein Krebstagebuch. Er hat etwas zu sagen – für sich, aber auch für so viele andere, die in einer ähnlichen Lage sind:
„Dann ist das alles noch für irgendetwas gut, ist nicht zur Gänze sinnlos. Es bewirkt vielleicht noch etwas Gutes, schafft fruchtbare und neue, positive Handlungsstränge. Damit kann ich besser leben und sterben als wäre es wirklich sinnlos. Ich glaube nicht in der klassischen Weise an Gott, Manitou, Mamawata oder den großen Watumba. Ich glaube fest daran, dass sich eine andere Daseinsform anschließt. Das dachte ich schon, als ich mich gesund wähnte. Und was oder wer auch immer dieses Schicksal für mich gewählt hat, wollte bei der Wahl der Methode ganz sicher gehen. Wenn er/es sich da mal nicht vertan hat. Sehe ich mir meine Biografie an, erkenne ich, dass der Gevatter schon mehrmals heftig mit der Sense gewackelt hat. Habe ihm jedes Mal eine Nase gedreht. Getanzt haben wir schon das ein oder andere Mal miteinander. Mal eng umschlungen, mal Rock ’n Roll. Ich sah all zu oft was er hinterlässt. Erst als Soldat und später dann als Altenpfleger. Wir beide kennen uns ganz gut, denke ich. Irgendwann trifft ihn jeder Mensch. Wann und wo und wie wird man selten vorher gewahr. Im Moment habe ich keine gute Phase. Bin ziemlich traurig, gerührt und ja, auch verängstigt ein Stück weit. Ich will meine Lieben vor Schmerz und Kummer schützen und die Sachlage zwingt mich, ihnen Schmerz und Kummer zu bereiten. Dieses Ambivalente zerreißt mich. Ich gebe nicht auf und ich will auch nicht in ein Tal der Tränen steigen. ich weiß, dass es kleine Chancen gibt, dem Tod noch einmal zu entrinnen. Ich stelle mir Aufgaben. Ich habe meine Sachen immer zu Ende gebracht. Unerledigte Sachen hasse ich. Ich habe noch jede Menge zu tun…“