Beziehungen sind immer auch Projektionen
Natürlich sind es immer auch Projektionen, die mich die Stimmungslage des anderen erkennen lassen. Projektion heißt, dass ich etwas mit einem Thema zu tun habe, mir dies aber gar nicht unbedingt selbst bewusst ist. Was mir hingegen irgendwann bewusst werden kann, ist, dass mich ein Thema, eine bestimmte Verhaltensweise, besonders stört. Meist genau jene, die ich dummerweise auch noch an allen Orten sehe, der ich ständig begegne. Das kann sowohl etwas sein, was mich ärgert, als auch etwas, was ich bewundere. Meistens ist es der Ärger, der uns noch mehr auffällt. Auf einmal erscheinen uns alle Menschen geizig, aggressiv oder hysterisch.
Projektion ist nie (oder nur in sehr wenigen Fällen) reine Phantasie. Wenn man der alten Freundin sagt, dass sie irgendwie traurig wirke, dann kann es sein, dass sie tatsächlich traurig ist, weil vor wenigen Tagen ihr geliebtes Haustier verstarb. Die Empfindung hatte also einen realen Hintergrund, der schnell geklärt ist. Es könnte aber auch sein, dass andere Menschen diesen Anteil von Trauer gar nicht bemerkt oder angesprochen hätten, man selbst hat aber diese Affinität zu bestimmten Gefühlen. Man ist dann sehr hellhörig und feinfühlig, für eben dieses Thema, diese Affekte und Stimmungen, ist damit in besonderer Resonanz. Der Mechanismus ist immer derselbe. Ich sehe das im anderen, was eigentlich (auch) zu mir gehört, nur in mir kann ich es nicht finden oder erkennen und wenn, dann bei weitem nicht so ausgeprägt und umfangreich. Der wichtige Punkt ist, dass Menschen, die ein Gefühl, eine Eigenart in sich nicht finden, diese nicht bewusst vor der Welt verstecken und klammheimlich leben, sondern das Thema ist ihn ihnen wirklich verdrängt. Das heißt, sie haben die Überzeugung, mit ihnen hätte das Verhalten der anderen (die sind ja so, sie tun und sagen das ja) nichts zu tun. Das macht die Angliederung so schwer, man fühlt es wirklich nicht in sich, aber das Thema: Aggression, Gier, Sexualität, Neid, Großspurigkeit … begegnet einem einfach ständig.
Projektionen sind normal. Zumindest ein Stück weit. Wir sind nicht in der Lage genau zu definieren, wo eine Projektion beginnt und endet. Ständig verinnerlichen wir Bilder von anderen und stellen diese internalisierten Bilder als Projektion oder Externalisierung wieder nach außen, gleichen sie mit der Welt ab, so bleibt unser Weltbild dynamisch. Das ist gesund und in Ordnung. Es kann gut sein, dass es uns selbst auffällt, dass wir bei einem Thema sensibel reagieren (bei vielen anderen hingegen nicht), es in besonderer Weise bemerken und sogar unsere Mitmenschen fragen: „Siehst Du das denn nicht?“ Die Antwort ist für den, der fragt, oft enttäuschend, denn die anderen sehen es meistens sehr wohl: Es stört sie nur nicht sonderlich und genau das macht den Unterschied. Wer sagt: „Ja, klar ist er so, aber so war er doch immer“, ohne dabei groß erstaunt, erregt oder anklagend zu sein, hat mit diesem Thema kein eigenes Problem. Derjenige, der projiziert, aber sehr wohl. Unabhängig davon, ob man der einzige Mensch auf der Welt ist, den etwas stört, ärgert, wütend macht oder irritiert oder ob man Millionen Andere hinter sich weiß, es bleibt das eigene Thema. Und man sieht es nur über diesen Umweg oder Spiegel der Umwelt.
Noch stärker ist dies bei der projektiven Identifikation, einer Verschlimmerung der Projektion. Das Thema ist nicht völlig auf einen anderen Menschen projiziert, sondern man hängt ein Stück weit mit drin. Aber auch nicht in der Weise, dass man empfindet, dass es das eigene Thema ist, sondern man projiziert hier so gut wie immer Spielarten der Aggression auf andere Menschen und fühlt sich von diesen zugleich gemeint und bedroht: „Ich weiß genau, was der vorhat.“ Man kennt die Absichten und Motive des anderen, meint genau zu wissen, was den anderen motiviert und kann sogar erklären, wie durchtrieben er ist … warum eigentlich? Woher weiß man das? Weil es die eigenen Empfindungen sind, die man projiziert, deren emotionalen Anteil man aber nicht ganz los wird. Man hat dieses Grundgefühl bedroht zu sein und meint in der projektiven Identifikation die Wut und Durchtriebenheit des anderen fast körperlich zu spüren. Und doch ist man auch hier wieder überzeugt, dass es selbstverständlich nicht die eigenen Aggressionen und Motive sind, sondern allein die des anderen.
Erinnern wir uns: Aus Sicht der Objektbeziehungstheorie wird nicht nur das Selbstbild integriert, sondern, der gesamte Komplex: das Selbstbild, das Bild des anderen und der Affekt in der Mitte (wie ihn das Selbst und der andere jeweils erleben). Ich habe den anderen in mir, erkenne, wie sich die alte Freundin fühlt, die ich zufällig wieder treffe, aber auch, was den boshaften Nachbarn motiviert. Mit einigem, was man projiziert ist man selbst identifiziert. Man sieht, die Freundin ist irgendwie zerstreut, etwas anders, als man sie von früher kennt, fragt nach und in der Tat hört man von ihr, dass sie sich gerade Sorgen macht. Das ist einerseits ein Lesen der Körpersprache des anderen, andererseits Gegenübertragung: Wenn ich mich so verhalte, wie sie jetzt, bin ich zerstreut, also wird auch sie zerstreut sein. Ein Stück weit emotionales Mitschwingen durch unsere Spiegelneuronen ermöglicht, von unserem Bewusstsein erfassbar, einzuordnen und die Bestätigung zeigt, dass die Projektion – denn ihre Unruhe kann auch mich leicht nervös machen – stimmte. Hier allerdings ist es eine insofern unproblematische Projektion, weil man mit dem, was man projiziert selbst auch identifiziert ist. Klar, manchmal bin ich auch zerstreut, das kenne ich von mir, aber weniger von der Freundin, die sonst eher fokussiert ist, also frag‘ ich mal nach.
Objektbeziehunsgtheoretisch: Innerhalb des Spektrums der sich abwechselnden Affekte einer normalen Unterhaltung zwischen psychisch gut integrierten Menschen, rückt je nach Gesprächsinhalt mal das eine, mal das andere Thema und der dazu gehörende Affekt in den Vordergrund: Freude und herzliche Offenheit über das Wiedersehen, Neugierde über das, was in den letzten Jahren passiert ist, das Wiederaufflammen alter Gefühle der Verbundenheit und Sympathie oder die Feststellung einer emotionalen Distanz, die Trauer und das Mitgefühl über den Tod des Haustiers. Mit all diesen Emotionen ist man selbst identifiziert, man kennt sie auch von sich, wäre auch tief traurig, wenn die eigene Katze stirbt. Man kennt ebenso Zerstreutheit, aber auch Freude und Neugierde von sich selbst.
Bei Projektionen auf eher neurotischer Ebene ist man immer wieder von einem Thema besonders verfolgt, das man nun fast bei allen sieht, das einen erheblich irritiert bis empört und mit dem man selbst nicht identifiziert ist: „Das würde ich niemals machen, ich kann überhaupt nicht verstehen, wie man so drauf sein kann.“ Aber das Thema liegt einem näher als man glaubt. Bei projektiven Identifikationen fühlt man die Emotionen und den Atem des anderen im Nacken, weist aber eine Eigenbeteiligung empört von sich: „Ich? So? Nie! Der ist doch aggressiv, bösartig und stellt mir nach, was hab‘ ich damit zu tun?“
Die Pointe an dieser Stelle ist nicht, dem anderen einzureden, er sei doch selbst aggressiv und solle sich was schämen, sondern dieses Gefühl in sich zu erkennen und anzunehmen. Das ist besonders brisant bei sehr traumatischen oder chronisch aggressiven Erfahrungen. Wenn man über Jahre gequält, gedemütigt und unterdrückt wurde und keine Chance hatte an der Situation etwas zu ändern. Hier ist man Opfer und hat keine Wahl. Man ist identifiziert mit der Position des Opfers. Viele Opfer brauchen zunächst Unterstützung, Schutz, Zuspruch und jemanden, der verlässlich für sie da ist. Doch Heilung geschieht erst, wenn man lernt sich mit dem Täter in sich – jenem, der sich durch Leid und Qual in Form wiederholter Spitzenaffekte, zugefügt durch einen anderen, in die Psyche eingebrannt hat – zu identifizieren. Man weiß ja, wenn man gequält wurde, nur zu gut, mit welcher Lust an der Machtdemonstration ein Sadist einem immer wieder zeigt, dass man ihm ohnmächtig ausgeliefert ist.
Die große Ratlosigkeit, das große: „Wie kann man nur?“ bringt einen psychisch nicht weiter, weil es den anderen und sein Erleben nur auf Abstand hält und eigene Emotionen abspaltet. Der Andere ist dann das Monster, der ganz und gar Unverständliche. Wenn Rachephantasien aufkommen und man dem anderen, diesem Unmenschen, am liebsten – und sei es nur für eine kurze Zeit – auch mal gerne zufügen würde, was man erleiden musste, dann ist das psychologisch schon besser. Man kommt mit der eigenen Aggression in Kontakt, zunächst vermutlich noch zögerlich. Man meint es ja selbst eigentlich nicht böse, will dem anderen nur mal klar machen, was er da all die Jahre getan hat. Dieser Kontakt zur Aggression muss auf eine bestimmte Art intensiviert werden.
Und was hat das nun mit der Reinkarnationstherapie zu tun? Viel.
Täter und Opfer in der Reinkarnationstherapie
Der therapeutische Ausgangspunkt der Reinkarnationstherapie ist nach wenigen Sitzungen in leichter Trance – die gleichzeitig das Erleben von Bildern und die Kommunikation mit dem Therapeuten einüben (der Patient erzählt, was er da gerade sieht, fühlt und erlebt), sowie diagnostischen Wert haben – ein Gefühl, ein Affekt des Patienten. Irgendwo im Leben hakt es und der Patient ist an der Stelle entrüstet, hilflos, maßlos traurig, verzweifelt oder was auch immer. Der Reinkarnationstherapeut lässt sich diese Situation erzählen und verlässt dann mit dem Patienten zusammen das konkrete Geschehen und geht scheinbar weit weg. Aber emotional bleibt er am Ball. „Wie fühlen Sie Sich denn, wenn Ihr Mann, immer wenn man ihm widerspricht, seine schlimmen Herzstiche kriegt?“ Die Patientin fühlt sich vielleicht traurig, schuldig, ohnmächtig, wodurch jede Diskussion sofort unterbunden wird, schließlich will sie nicht, dass der andere ernsthaften Schaden nimmt. Was sie vielleicht nicht empfindet, ist Wut, schließlich ist der Mensch krank und da nimmt man Rücksicht, so hat man es gelernt.
Nach einigen wenigen Sitzungen kann man routiniert tun, was man inzwischen geübt hat, nämlich einfach in der Zeit zurückgehen, in eine Situation, die sich vielleicht symbolisch präsentiert, in der vielleicht Fragmente eines Kinofilms auftauchen, den man kennt oder die man sogar als authentisches früheres Leben empfindet, mit all den emotionalen Ausschlägen und Empfindungen, die man im normalen Leben auch hat. Wenn der Therapeut sagt: „Gut, bleiben Sie bei dem Gefühl und gehen Sie zurück in der Zeit, bis irgendein Bild, ein Gefühl, eine Situation auftaucht“, dann ist man recht schnell in dieser Bilderwelt. Dort erlebt man eine ähnliche Szene, wie die, mit dem eigenen Mann. Vielleicht ist man Angestellte im Dienst eines Landadeligen, der mit einem willkürlich macht, was er möchte, einfach weil er die Macht dazu hat. Man wird ungerecht behandelt, ist entrechtet und irgendwann wächst vielleicht aus der Trauer, die einen Nachts dazu bringt in die Kissen zu weinen, ein weiteres Gefühl. Vielleicht bekommt man hier das Gefühl von empfundenem Unrecht, Wut, dem Wunsch aufzubegehren besser zu greifen.
Genauso könnte aber auch der Mann mit den Herzstichen aufgrund derselben in die Therapie kommen. Was empfindet er? Auch er empfindet es als aggressiven Akt, dass er von anderen so provoziert wird, bis sich schwere körperliche Reaktionen einstellen und erst dann, wenn er in Lebensgefahr ist, lassen die Aggressoren von ihren bösartigen Forderungen ab. Auch dieser Mensch würde sich als Opfer fühlen. In der Bilderwelt könnte er ein Großgrundbesitzer sein, der sich aus seiner Sicht herzensgut um seine Angestellten kümmert und von lauter undankbaren Menschen umgeben ist, die gar nicht erkennen, wie kompliziert seine Position ist, wie wohlmeinend und engagiert er ist. So gut wie jeder erfährt sich zunächst als Opfer.
Die Geschichte ist immer ähnlich, sie lautet in etwa: „Wissen Sie, ich bin vielleicht nicht perfekt, aber im Kern ein herzensguter Mensch. Mit mir kann man auskommen, was ich nur nicht verstehe, ist, warum die anderen das nicht erkennen wollen und würdigen können. Ich weiß nicht, warum sich die Welt gegen mich verschworen hat, aber es scheint fast so.“ Das ist menschlich, das ist unsere privater Mythos, der uns selbst als netten, besonnenen und im Kern guten Menschen dastehen lässt, dessen einziges Problem es ist, dass er von undankbaren, verrückten und miesepetrigen Leuten umgeben ist, die ihm scheinbar das Leben zur Hölle manchen wollen. Ein an sich guter Mensch in einer bösen, schlechten oder durch und durch irrationalen und undankbaren Welt. Eine leichte Selbstüberschätzung mit der man an sich gut durchs Leben kommt, bis zu jenem Moment, wo das eben nicht mehr der Fall ist, weil andere nicht mehr mitspielen, weil das Selbstbild von anderen – die sich ja auch alle für an sich gute Menschen halten – nicht mehr ausreichend unterstützt wird. Dann beginnt man zu leiden, versteht die Welt nicht mehr und wenn das Leid groß genug ist, geht man zur Therapie.
In der Reinkarnationstherapie bekommt man zunächst, was man kennt. Man sieht und erlebt sich als Opfer. Nicht nur jetzt, sondern auch früher war es offenbar schon so. Man erlebt es ja in den Bildergeschichten, täglich, hautnah und intensiv. Doch nur für kurze Zeit. Denn auf der Ebene der Bilder kann man nun beliebig hin und her spulen, Situationen verlangsamen und genau anschauen oder eine größere Perspektive einnehmen und schneller vorspulen. Und wenn man ein paar Mal gelitten hat, gestorben ist, gefoltert wurde und dies sehr hautnah erlebt hat, dann kann man irgendwann auch an den Anfang eines solchen Lebens gehen und das ganze Bild betrachten. Wie kam es eigentlich dazu, dass ich jetzt am Galgen hänge und ersticke? Nun wird die Vorgeschichte betrachtet und irgendwann stößt man eventuell auf seinen eigenen Aggressionen. Die erscheinen aus der Situation heraus ganz natürlich. Man war ein Dieb weil man arm war oder in irgend einer Situation vielleicht ein Urmensch, der sich verteidigen muss und im wildem Kampf mit einer Keule jemandem mit aller Wucht und Wut den Schädel zertrümmert. Man lernt auf einmal die eigenen Aggressionen kennen, auch wenn es stellvertretend die eines behaarten und rohen Urmenschen sind.
Hier ist die nächste Stelle an der man wach sein und aufpassen muss. Wer denkt, es ginge darum nun erklärt zu bekommen, dass man die Suppe, die man sich in früheren Leben eingebrockt hat, eben auslöffeln muss und nun seine Strafe verdient hat und demütig akzeptieren sollte, der irrt. Psychotherapie geht nie so und funktioniert so auch nicht. Wäre das der Fall würde die Ansprache mit erhobenem Zeigefinger reichen, wir wissen aber, dass das nicht der Fall ist. Man kann Menschen zwar erfolgreich ins Gewissen reden, aber da muss der richtige Mensch zur rechten Zeit kommen und vieles zusammen passen. Es geht vielmehr darum, zum Beispiel die eigenen Aggressionen kennen zu lernen. Auch das nicht auf der vordergründigen Ebene konventioneller Gewohnheiten, mit der man diese gleich wieder wegschieben will: „Was bin ich nur für ein mieser Mensch, dass ich so aggressiv und durchtrieben bin, ist ja entsetzlich, das hätte ich ja nie von mir gedacht.“ Nein, darum geht es nicht und es würde die Ausgangslage der schon verdrängten Aggressionen nicht ändern, wenn man sich dafür verurteilt und versucht diesen „Makel“ nun möglichst schnell wieder los zu werden. Man ist ja schon in der Situation sich mit den Aggressionen (und anderen mehr oder weniger kollektiv unerwünschten Themen) nicht zu identifizieren. Aber es geht um Identifikation und Integration. Wer in die Bilderwelt verwickelt ist, sich kämpfend oder herrschend erlebt, der hat kein schlechtes Gefühl in dieser Situation. Sie passt zum Kontext. Wer voll selbstgerechter Wut überquillt, der fühlt sich stark, vital, im Recht und auf dem richtigen Weg sowieso. Wer andere mit einer Geste niederhalten oder über Leben und Tod entscheiden kann, fühlt in der Identifikation des Augenblicks den Kitzel und die Lust der Macht. Stärker, klüger, besser, mächtiger zu sein, fühlt sich gut an, ist ein Genuss.
Man lässt den anderen in diesem Gefühl der Lust, der prickelnden Vitalität baden, sich das Gefühl aus dieser anderen Welt genau beschreiben, so dass man merkt, dass er es genießt … und dann, plötzlich, sagt der Therapeut: „Gut, bleiben Sie bei dem Gefühl, das Sie genau jetzt haben. Kennen Sie das irgendwo her, aus Ihrem gegenwärtigen Leben?“ Und auf einmal erkennt man, dass die plötzlichen Herzstiche, die jede Diskussion und jeden Widerspruch im Keim ersticken, sich so ähnlich anfühlen und auch ein Machtmittel sind. Eines, was an die heutige Zeit angepasst ist. „Mir geht’s schlecht, lass mich in Ruhe. Wenn mir was Schlimmes passiert, ist es Deine Schuld.“ Früher hat man den Daumen gesenkt oder die Hand erhoben, die Machtmittel der Neuzeit sind oft Krankheitssymptome oder eingeforderte Rücksicht. Wer das in dieser Situation erkennt, weil er es erlebt, dem geht Licht auf. Das Opfer von einst, das urplötzlich Symptome bekommt ist auf einmal auch Akteur in einem Machtspiel und dort der Täter. Aggressiv drohend, nur eben nicht mit der geballten Faust, sondern mit dem Asthmaanfall, dem drohenden Infarkt oder den schrecklichen Schmerzen. Die früheren Leben, so sagt es Dethlefsen explizit, sind ein Weg um so präzise ins Hier und Jetzt zu kommen, wie man es sonst kaum kommt.
Denn würde man dem Patienten sofort raten: „Ja, dann sagen Sie doch einfach mal offen und klar, was Sie wollen“, kommt man in die Irrungen und Wirrungen der Beziehungen und muss hören, warum man mit dem/der Partner(in) einfach nicht reden kann, mit jedem, aber nicht mit ihr/ihm. Deshalb der Umweg.
Parallelen zur Objektbeziehungstheorie
In beiden Situation finden wir zunächst Menschen vor, die sich als Opfer empfinden und in der Opferrolle vorfinden. Das durchaus zurecht, denn wer als Kind ein jahrelanges Martyrium durchmachte, der hat sich das nicht ausgesucht. Wer Herzstiche, Asthmaanfälle oder den nächsten Schub einer chronischen Erkrankung erlebt, der leidet und ist zurecht verzweifelt. In beiden Fällen sieht und empfindet man sich als Opfer und das nicht einmal zu unrecht. Der Punkt ist nicht, jemandem einzureden, dass er kein Opfer ist. Das würde ohnehin nur noch mehr verwirren und wäre schroff gegen jedes Selbsterleben. Auch geht es nicht darum, jemandem, der nach menschlichem Ermessen tatsächlich unschuldiges Opfer ist, nun irgendwie die Schuld für sein Leiden in die Schuhe zu schieben. Das ist ein grobes und wie ich glaube, leider oft ideologisch instrumentalisiertes Missverständnis, auf das ich gleich noch gesondert eingehe, ich will es hier nur schon mal erwähnen.
Es geht darum, klar zu machen, dass irgendwo in den Tiefen der eigenen Psyche das Bild des Täters wohnt und wenn – gemäß der Objektbeziehungstheorie, weil immer, bei jeder Begegnung mit anderen, der ganze Komplex von Selbst, Anderem und dem, die Begegnung leitenden Affekt in der Mitte verinnerlicht wird; gemäß der Reinkarnationstherapie, weil jedes Erleiden seine erlebbare Vorgeschichte hat, die das einpolige Bild ausgleicht – man sich nur mit der Hälfte dessen identifiziert, was bereits in der eigenen Psyche zu finden ist, kann es nie zu einem Prozess der Heilung kommen, denn Heilung ist die Integration des Schattens.
Die Integration des Schattens
„Der Schatten, ist die Hölle, ist wirklich der Abgrund schlechthin.“ Sagt Dethlefsen. Und meint damit nicht Höllenqualen im Sinne weiterer Situationen, in denen man gequält und gemartert wird, sondern die wesentliche Einsicht ist die: Der Schatten ist nicht das eigene Leid, sondern die Situation, in der wir Täter sind. Es ist das schreckhafte, vielleicht schockhafte Erkennen, dass wir der Mensch sind, der wir nie sein wollten. Denn das steckt als persönliches Erleben hinter den etwas technischen Begriffen wie Projektion oder Schatten.
Im Grunde könnte alles ganz einfach sein: Du willst Deinen Schatten finden? Schau, wogegen Du etwas hast, was Dich stört und ärgert, das ist Dein Schatten. Fertig. So einfach geht’s, theoretisch. Praktisch ist das völlig unmöglich. Dethlefsen, ziemlich wörtlich: Es ist nicht schwer das Problem eines Patienten finden. Ein geübter Therapeut sieht das nach kurzer Zeit. Es es sehr schwer, Psychotherapie zu machen. Denn, wenn Sie einem Patienten in der ersten Stunde sagen, was sein größtes Problem ist, dann haben Sie a) Streit und b) den Patienten zum letzten Mal gesehen, weil er sagt: „Was, sowas sagen Sie mir? Also, von Ihnen als Therapeut hätte ich da mehr erwartet, so bin ja gerade nicht.“[5]
Das macht es so schwer. Die Psychotherapie arbeitet deshalb auch mit dem Element der Wiederholung. Man sieht die Zusammenhänge nicht einmal oder zweimal, sondern zigfach. Und wenn man nahezu jeden Tag, eine inhaltlich zwar andere, aber strukturell doch sehr ähnliche bis gleiche Geschichte erlebt, dann kann man sich irgendwann nur noch schwer gegen die Erkenntnis wehren, dass diese Geschichten, auch wenn man die Idee der Reinkarnation ablehnt, diese Erlebnisse etwas mit mir zu tun haben müssen, denn mindestens entspringen sie ja meiner Phantasie.
Und so ist die wichtigste Aufgabe des Therapeuten auch nicht den Schatten aufzudecken oder bewusst zu machen, obwohl das anspruchsvoll genug ist, sondern der wichtigste Punkt ist, dass man lernt, ihn anzugliedern. Integrieren heißt „Ja“ dazu zu sagen, heißt „ich“ dazu zu sagen. „Ja, so bin ich auch.“ Und da der Schatten genau das ist, was man seit Jahrzehnten vor anderen und vor allem vor sich selbst verstecken will, weil es genau der Bereich ist, den man überhaupt nicht leiden kann und bei anderen verachtet, ist dieser Schritt erstens, so schwer und zweitens, kann man sich nicht vorstellen, dass das – ausgerechnet das! – wirklich der eigene Schatten sein soll. Erkennt man ihn dann, ist man konsterniert, beschämt und muss „mal eben“ die gesamte Lebensgeschichte neu schreiben. Das macht es so hart, die Therapie so sensibel wie möglich zu gestalten und es ist vor allem so wichtig, dass der Therapeut sich in dem Bereich auskennt und ihn in sich selbst integriert hat, mindestens aber, dass er weiß und erlebt hat, was es praktisch bedeutet, mit dem eigenen Schatten konfrontiert zu sein und ohne Eigentherapie ist das mindestens sehr schwer bis unmöglich. Die Gefahr besteht darin, dass ein Patient, der seinen Schatten gefunden hat, den der Therapeut selbst nicht integriert hat, vom Therapeuten subtil entwertet wird, was die Ausgangslage noch verschlimmert. Die Integration ist das A und O.
Das natürlich auch und umso mehr bei Patienten, die den ungeheuer mutigen und psychisch anspruchsvollen Schritt gehen, den Schatten konfrontieren zu wollen und sich natürlich zunächst als jenes Opfer erleben, das sie juristisch und de facto sind. Ob man jahrelange Quälerei durch andere oder Todesängste durch Panikattacken erleiden musste, beides ist der pure Horror. Und weil es so schlimm ist, ist der Schritt so wichtig, zu wissen, dass es einen Ausweg gibt und das ist der beschriebene.
Es ist der Verzicht darauf sich nur noch und ausschließlich mit der Opferrolle zu identifizieren und das ist bei uns oft doppelt schwer weil man als Opfer unterstützt wird (was gut ist) und oft auch in die Opferrolle gepresst wird (was schlecht ist). Damit zu dem unerfreulichen Bereich wo Psychologie und Ideologie ineinander fließen, wir müssen ihn kurz streifen.
Die (bewusst) missverstandene Frage nach der Schuld
Es gibt eine ganze eigene Zunft, die davon lebt, die Menschheit vor der Regentschaft der Unvernunft zu retten. So jedenfalls sehen sich die wackeren Streiter, die sich gerne Skeptiker nennen und dem Glauben an die Vernunft verhaftet sind, zumeist selbst. Dass ihre robuste Zuversicht oft auf dem Fundament eines nicht eben breiten Wissens und Reflexionsvermögens steht, ist eine ironische Wendung, die gut zum Schattenthema passt. Wer sich bright fühlt, hat als Kontrast oft einen dunklen Schatten.
Doch die Überzahl der etwas Unbedarften ist nicht das wirkliche Problem, sondern die Fraktion von Ideologen, mit entsprechenden Motiven ist es. Hat man erst mal ein Feindbild, ist es auch egal, ob das was man dagegen in Stellung bringt auch nur im Ansatz gründlich recherchiert, richtig oder redlich ist, schließlich kämpft man für die gute Sache, wie es jeder Fundamentalist von sich annimmt. Seit Jahren steht, um nur ein Beispiel zu nennen, auf der Seite der politisch-ideologischen Skeptiker-Organisation GWUP über die Reinkarnationstherapie Dethlefsens zu lesen:
„In angeblicher „Fortentwicklung“ der Psychoanalyse, die die Ursache von psychischen Störungen in erster Linie in ungelösten Konflikten der frühen Kindheit sucht, geht die Reinkarnationstherapie in ihrer „Ursachenforschung“ weiter zurück. Noch vor der Empfängnis, also in angeblichen früheren Existenzformen, liege die Ursache von Störungen.“[6]
Wenn es tatsächlich zu viel verlangt ist, denjenigen, den man kritisiert überhaupt zu lesen, sind zumindest die Gründlichkeit und Redlichkeit kaum mehr mangelhaft zu nennen. An zahlreichen Stellen hätte man lesen können – dazu hätte man es freilich tun müssen – dass das in keiner Weise die Idee der Reinkarnationstherapie ist. Eine beliebige hier:
„Aus dem theoretischen Teil unseres Buches sollte bereits klargeworden sein, was Reinkarnationstherapie unter anderem nicht ist: Wir suchen nicht nach irgendwelchen Ursachen eines Symptoms in früheren Leben. Reinkarnationstherapie ist nicht eine zeitliche verlängerte Psychoanalyse oder Urschreitherapie.“[7]
Nach etwa einem Viertel Jahrhundert könnte man das wissen.
Auch Otto Kernberg ist zum Ziel von Kritik geworden, die nicht mehr auf die Thesen zielt sondern deutlich unangenehm gegen die Person gerichtet ist, ich lasse sie aus diesem Grunde unerwähnt. Dethlefsen Art provozierte eher zum Widerspruch, das wird ihm bewusst gewesen sein, damit hat er gespielt.
Wenn Dethlefsen und Dahlke zur Halbzeit vorne lagen, so gerieten sie, um in dieser Terminologie zu bleiben, doch sehr bald in Rückstand. Der Begriff Esoterik ist vollkommen diskreditiert, was einerseits nicht schlecht ist, da diese kein Breitensport sein kann, doch die Ideen leben noch und das Spiel ist noch nicht vorbei, der Anschlusstreffer erzielt.
Doch eine andere Kritik ist gehaltvoller. Es geht um den Vorwurf, dass einem Kranken oder einem Opfer durch die genannten Ansätze Schuld aufgebürdet würde. Die ideologisch motivierte Kritik nimmt was sie kriegen kann, um zu diskreditieren, doch einige Menschen, die sich ernsthaft und tatkräftig um Opfer und kranke Menschen kümmern sind hier ebenfalls irritiert.
Ich hoffe, dass aus dem bislang Dargestellten bereits ersichtlich wurde, worum es im Ansatz der beiden Varianten der zwei ungleichen Geschwister geht. Nicht darum, jemandem der leidet nun auch noch ein kühles: „Tja, selbst Schuld“ überzubraten, was sollte einen Therapeuten auch dazu motivieren? Im Gegenteil geht es darum, jemandem zu ermöglichen unbewusste und gut verborgene Bereiche des Schattens zu erkennen und anzugliedern, vor dem Hintergrund der Idee, dass eine viel umfassendere Heilung auf diese Weise möglich ist.
Integration bedeutet auf Kernbergs Seite, dass das Opfer die Lust des Täters nachempfinden können muss. Ein Opfer muss in gewisser Weise erlebend, in der Identifikation nachvollziehen, wie es dem Täter bei der Tat ging. Das ist aus drei Gründen nicht zu viel verlangt. Die auf dieser Theorie beruhende Therapie hat sich als sehr effektiv erwiesen. Zweitens, ist es das Bild des Täters, mit dem dazugehörigen Affekt aus Sicht der Täter: und der leidet ja nicht, wenn er jemanden sadistisch behandelt, sondern erfährt dies als lustvoll und hat sich ohnehin in die Psyche des Opfers über den Mechanismus der Spitzenaffekte tief eingebrannt. Der dritte und nicht unwichtigste Punkt: Ein Mensch, der chronisch Schreckliches erlebt hat, steht sehr in der Gefahr, das was er nicht integriert hat zu agieren, das heißt an die Umwelt im Wiederholungszwang weiter zu geben.
Dethlefsens Schuldbegriff ist nebenbei ein anderer, als der bei uns übliche. Er versuchte einen neuen (oder sehr alten) Schuldbegriff zu etablieren, wie man an zahllosen Stellen bei ihm erfährt. Er versteht Schuld nicht in dem bei uns üblichen Sinne, dass man schuldig ist, weil man etwas Bestimmtes gemacht hat, sondern konträr dazu ist Schuld für Dethlefsen das, was man nicht getan hat und der Einheit schuldet. Man sollte es demnach tun, damit man ganz oder heil wird. Konsequenterweise lastet Dethlefsen auch niemandem an etwas getan, sondern höchstens unterlassen, noch nicht getan zu haben. So kann in diesem psychologischen Sinne niemand dafür verantwortlich sein, was er getan hat, sondern höchstens für das, was er noch nicht getan hat. Das, so Dethlefsens Idee, kommt ihm dann als Repräsentant des nicht gelebten Prinzips aus der Umwelt, als Krankheit oder soziales Ereignis entgegen.
Doch analog zu Kernbergs Ansatz geht es auch bei Dethlefsen und Dahlke darum, die Täter in sich, man müsste treffender sagen, dass vom Täter ausgedrückte Prinzip in sich zu finden und zu integrieren, um heiler zu werden. Bei Dethlefsen und Dahlke mehr in einem metaphysischen Sinne, bei Kernberg eher auf einen psychologischen Bereich, der für eine integrierte Psyche steht, beschränkt.