Setting und Theorie der Reinkarnationstherapie

Mandalas, ein Ursymbol, spielen in dem Gesamtkonzept Reinkarnationstherapie eine Rolle. © JOSlash under cc
In der Reinkarnationstherapie fließt das gesamte frühe Ideengebäude von Dethlefsen und Dahlke zusammen und findet seinen praktischen Ausdruck. Sie besteht aus mehreren Elementen, wobei die Therapiesitzungen den Kern bilden, aber die Idee ist, eine Zeit von etwa vier Wochen zu haben, in der Therapie ein ‚rund um die Uhr Programm‘ ist. Das bedeutet, sich selbst, die eigenen Muster und Schattenbereiche unablässig in einem Raum oder einem „Feld“ der Ruhe, in dem man nicht abgelenkt ist, zu betrachten.
Die Reinkarnationstherapie wurde nicht im Studierzimmer ersonnen, sondern entstand immer auch spielerisch, empirisch, manchmal zufällig. So stellten Dethlefsen und Dahlke fest, dass in der ersten Münchener Zeit jene Patienten, die von außerhalb kamen und im Hotelzimmer lebten bessere Therapieerfolge hatten, als die Münchener selbst, die wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehrten. Fortan ließ man auch die Münchener während der Therapiezeit im Hotel wohnen, was die Erfolge auch bei diesen vergrößerte.
Der Idee der Psychosomatik folgend, dass ein verstopfter Mensch auch im übertragenen Sinne dicht ist und macht und wohl ebenfalls aus therapeutischer Eigenerfahrung, entwickelten sich das begleitende Fasten zum integralen Bestandteil der Therapie. So kam Baustein zu Baustein. Ein wesentlicher: Auf die Hypnose wird verzichtet. Obwohl Dethlefsen hier überbegabt ist. Das macht nicht jeder. Statt dessen gehört nun lediglich eine leichte Tranceinduktion zum Konzept. Der Patient ist entspannt, aber bewusst, liegt, die Augen sind geschlossen. Das reicht. Das „Bildern“, also das Verwickeln in Erlebnisse, in denen Bilder und emotionale Identifikationen auftauchen, die sich als frühere Leben ausgeben, klappt dennoch. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Elemente zur Reinkarnationstherapie hinzu, die heute stabil zur vier Wochen Reinkarnationstherapie gehören:
Die Therapiesitzungen selbst, das Fasten, Sitzungen mit verbundenem Atem, Ruhe und Selbstbesinnung, Wiedergabe der Therapiesitzungen in eigenen Worten und Bildern, Achtsamkeit im Bezug auf die eigenen Träume, Ideen, Phantasien während der Therapiezeit, Verzicht auf Ablenkung und intellektuelle Beschäftigungen, stattdesssen lieber die Beschäftigung mit Märchen und Mythen oder dem Ausmalen von Mandalas.
Das theoretische Konzept der Reinkarnationstherapie liegt seit Schicksal als Chance offen vor. Der Patient kommt mit einem Problem, körperlicher oder psychischer Art. In seinem Vortrag über Reinkarnationstherapie macht Dethlefsen klar, dass es ihm um die Überwindung einer emotionalen Distanz geht, die zwischen der konkreten Situation und dem dahinterliegenden eigenen Muster liegt und darum, das eigene Muster jenseits und in der konkreten Situation sehen zu lernen.[4] Hat jemand Eheprobleme, geht es in der Einzeltherapie immer darum, den eigenen Anteil daran zu finden. Bleibt man bei der konkreten Situation, hat man häufig das Problem, dass jemand sagt: „Die Idee ist sicher gut, aber das geht bei mir leider nicht, sie kennen meine Frau nicht!“ Bevor man nun die Psyche der Frau diskutiert und ob diese nun wirklich so ganz anders ist, als alle andere Menschen oder nicht, will sich die Reinkarnationstherapie ganz von diesen Verwicklungen im Konkreten lösen und fokussiert sich auf die eigene Rolle, das eigene Muster in und hinter diesem Konflikt.
In diesem „Wissen Sie, das ist mit meiner Frau nicht zu machen“, was steckt da eigentlich für eine Aussage drin? Resignation, Angst vor eigenen Forderungen und den Konsequenzen, Bequemlichkeit? Was sagt es über mich aus, dass ich so eine Einstellung habe? Und sollte die Frau tatsächlich sehr anders als alle anderen sein, was sagt es über mich aus, dass ich genau diese Frau attraktiv finde? Der Ball wird immer wieder zurückgespielt in die eigene Psyche und die Reinkarnationstherapie nimmt das sehr ernst.
Das kann man auf weitere zwischenmenschliche Situationen übertragen, den Nachbarn, den Chef, über den man sich ärgert. Aber warum ärgert mich genau dieser Mensch und mehr noch: Warum traue ich mich nicht an der Situation was zu ändern? Gute Gründe gibt es immer: Eine Familie, die zu ernähren ist, Sorge um den Arbeitsplatz, da ist vieles denkbar und mitunter auch realistisch, aber Dethlefsen und Dahlke geht es nicht darum eine Liste zu erstellen, die ausführlich begründet, warum alles so bleiben muss, wie es ist, sondern es geht darum, anhand dieser Gegebenheiten das eigene Muster, sich selbst zu erkennen. So bin ich, so denke und agiere ich, das sind meine Motive. Der therapeutische Anspruch ist, dass man dies erkennt und sieht und dieses abstrakte Muster auf alle Lebenslagen übertragen kann. Man sieht, so die Idee, die eigene Rolle, den eigenen Anteil beim Partnerschaftskonflikt oder seiner krampfhaften Vermeidung, aber auch beim Ärger über den Chef, den Nachbarn und in der Haltung, die man zu weltanschaulichen Fragen einnimmt.
Worum es im Kern geht
Die Idee dahinter ist einfach: Man will dem Patienten eine Projektionsfläche nach der anderen nehmen. So sagt es Dethlefsen wörtlich und weist immer wieder und pointiert darauf hin, dass die Projektion von Schuld eines der Hauptprobleme unserer Zeit ist. Ob nun Gene, Bakterien, Nachbarn, die Erziehung, der Kapitalismus, die Gesellschaft, Umweltgifte, der Partner, Chef oder Elektrosmog, die Gründe für die eigene „Unschuld“, werden immer gesucht, kombiniert und gefunden. So, dass am Ende immer genau einer übrig bleibt, der mit der ganzen Sache rein gar nichts zu tun hat: der Betreffende selbst. Das ist schon insofern eine etwas komische Situation, weil „die ganze Sache“, um die es hier geht, das eigene Leben ist. (Vergleiche dazu auch: Die eigenartige Lust an der Degradierung)
Wie weit man das nun treiben will, ist Geschmackssache. Kaum jemand würde wohl heute die Aussage unterschreiben, dass es keine Umwelt gibt und diese uns auch nicht tangiert. Dethlefsen selbst zieht diese scharfe Form aus Schicksal als Chance zurück, wenn in Krankheit als Weg formuliert ist, dass die Medizin in dem was sie tut durchaus gut ist und recht hat, dass es aber da noch eine andere Seite gibt, eine psychische, die viel zu wenig betrachtet wird.
Und hier ist ein Punkt wichtig: Wenn man sich die Frage vorlegt, was all das, was mir geschieht, denn eigentlich mit mir zu tun hat, dann kann man nicht an irgendeinem Punkt aussteigen und sagen: „Na, das waren meine Eltern“ oder diese Infektionskrankheit damals. Nicht, wenn man diesen Weg beschritten hat, sonst bleibt es bei der Willkür. Ansonsten beschäftigt man sich mit dem, was im Grunde nicht weh tut und verharrt im Banalen und Gewohnten. „Ja, da hatte ich auch Stress, kein Wunder, dass ich mich erkältet habe, Stress und Immunsystem, man kennt das ja.“ Doch dort, wo der dicke Hund begraben liegt, setzt man dann wieder die Anderen, die Umwelt, als Verantwortliche ein.
Die Grundidee ist jedoch, dass Krankheit kein Zufall ist, sondern einem Muster folgt, was immer mit dem Betreffenden selbst, mit seiner Psyche zu tun hat. Jeder kennt den Durchfall bei Prüfungen, der „Schiss“ ausdrückt, wir wissen, dass die Hände oder die Stimme zittern können, dass sich die Schulter- und Nackenmuskeln verspannen können, wenn wir gestresst sind, dass der Atem nicht mehr frei fließt. Die Zusammenhänge sind allgemein anerkannt. Dethlefsen und Dahlke gehen weiter und betrachten auch jene Krankheiten als psychosomatisch, die üblicherweise nicht mehr dazu gezählt werden. Etwa Infektionen durch Bakterien oder Viren. Es wird nicht geleugnet, dass es Bakterien oder Viren gibt, die Behauptung steht im Raum, dass diese uns ohne innere Bereitschaft, ohne Resonanz zu dem Muster, was die Krankheit ausdrückt, nichts anhaben können.
Eine steile These, die hier aber längst noch nicht ihr Ende findet. Über den medizinisch nachgewiesenen Weg, dass Stress ja die Immunlage verschlechtert kann man diesen Ansatz noch verteidigen, aber der Ansatz der Reinkarnationstherapie und aus dem gemeinsamen Buch Krankheit als Weg geht noch um einiges weiter. Unfälle, Krebs, AIDS, angeborene Behinderungen, sie alle werden unter dem Aspekt betrachtet: Was hat es mit mir und meiner Psyche zu tun?
Zunächst erscheint es aberwitzig, buchstäblich alles durch diese ins Esoterische erweiterte psychosomatische Brille anzuschauen, aber wenn wir den Spieß einmal umdrehen und fragen, woher wir denn so genau wissen, welche Krankheiten nun eindeutig psychosomatisch sind und welche nicht und nach welchen Kriterien wir das beurteilen, dann stellen wir fest, dass wir das so genau eigentlich auch nicht wissen. Es ist eine Gewohnheit, die uns den Skiunfall und die Behinderung als eindeutig nicht psychosomatisch, die Allergie und das Schmerzsyndrom aber als durchaus psychosomatisch erscheinen lässt. Doch es ist nicht die mangelnde Differenzierungsmöglichkeit die Kritiker irritiert und verärgert, sondern die Idee, dass, wenn man von psychischen Mustern redet, jemand der krank ist nun vorgeblich auch noch Schuld zugesprochen bekommt, die Schuld dafür, dass er krank ist. Wir stellen dies einen Augenblick zurück, widmen uns jenem Punkt jedoch.
Was ist eigentlich Heilung?
Heilung gehört zu jenen Begriffen, mit denen wir oft umgehen, in der Gewissheit recht genau zu wissen, was damit gemeint ist, doch wie so oft sind es gerade die selbstverständlichten Begriffe, die sich als sperrig erweisen. Was ist Krankheit, was Gesundheit? Was ist nur Symptomlinderung und was Heilung und gibt es überhaupt einen Unterschied? Philosophen kommen da ins Grübeln, beschränken wir uns auf die Varianten von Heilung.
- Heilung aus medizinischer Sicht
Heilung aus medizinischer Sicht fällt eng mit der Linderung oder Abwesenheit von Symptomen zusammen. Liegt eine Entzündung vor, so ist man krank, ist die Entzündung weg, ist man wieder gesund, der Vorgang als solcher ist die Heilung. Im Zentrum dieser Betrachtung besteht ein primär biologisches Modell von Krankheit und Gesundheit. Es gibt einen idealen Status der Gesundheit (dem man mehr oder weniger weitreichend entspricht), ist dieser Status verändert, ist man krank, wird der Status von zuvor (oder der des Ideals der Medizinbücher) weitgehend oder ganz wieder hergestellt oder erreicht, so ist das Heilung.
- Heilung aus psychologischer Sicht
Heilung aus psychologischer Sicht ist dem nur in bestimmten Aspekten ähnlich. Wer plötzlich unter psychischen Symptomen leidet, die er zuvor nicht hatte oder kannte, der hat zwar oft selbst den Wunsch, alles möge wieder so werden, wie es vorher war, als man alles als unbeschwert empfand, doch Psychotherapeuten wissen, dass das nur selten der Fall sein wird.
Zwar gibt es leichte Traumatisierungen, die man im wesentlichen durch schnelle Übung überwinden kann. Ein Autounfall, der einem in den Knochen sitzt oder der berühmte Sturz vom Pferd, bei dem alle wissen, dass es wichtig ist, möglichst schnell wieder weiter zu reiten. Gelingt das, ist in aller Regel das meiste wieder wie zuvor, bei schweren Traumatisierungen oder tiefsitzenden Mustern, die auf einmal durchdrücken, ist das anders. Heilung ist hier nicht ein Zurück, in einen Zustand davor, sondern das was erfahren wurde bleibt und muss nun integriert werden in einen neuen, größeren, oft anderen Zusammenhang. Psychische Heilung heißt hier mehr zu werden, integrierter zu werden, zu wachsen. Man ist danach ein anderer Mensch, aber nicht umprogrammiert sondern man ist einerseits noch ganz der Alte und zugleich mehr, jemand, der reifer geworden ist, durchs Leid gelehrt.
- Heilung aus psychosomatischer Sicht
Heilung aus psychosomatischer Sicht befindet sich irgendwo in der Mitte, schon weil sie körperliche Erkrankungen immer auch als Symbol, Signal oder Hinweis versteht. Auch wenn es eigentlich „nur“ der Rücken oder der Kopf sind, die schmerzen, das Immunsystem, das irgendwie verrückt spielt oder der Magen, der rebelliert, wenn man sich zum Kotzen fühlt. Theoretiker und Praktiker der Psychosomatik wissen, dass Körper und Psyche nicht voneinander getrennt sind und praktisch alles – nicht nur jede Krankheit – psychosomatisch ist, die Grundidee ist, dem Körper die Stellvertreterrolle abzunehmen, indem man das, was er ausdrückt, bewusst lebt.
Psychische Heilung ist hier also auch körperliche Heilung, bzw. die Erkenntnis, dass man den Körper auch über die Psyche heilen kann und umgekehrt. Heilen hier eher im Sinne der Psychologie, indem man im Bewusstsein größer wird und das erkennt und ins Leben integriert, worauf der Körper einen hinweist.
Die Objektbeziehungstheorie
Theoretische Überlegungen schrecken oft ab, weil man hier Assoziationen von weltfremd und dröge hat, tatsächlich sind sie spannend, wenn man innere Zusammenhänge erkennt und das kann man hier, bei diesen ungleichen Geschwistern, exemplarisch aufzeigen.
Otto Kernberg ist kein reiner Objektbeziehungstheoretiker, aber diese Theorie beeinflusste ihn maßgeblich. Die Grundidee der Objektbeziehungstheorie ist einfach. Wenn sich zwei Menschen begegnen, dann steht diese Begegnung unter dem Einfluss eines Affektes, der sie in der Mitte verbindet. Es kann sein, dass wir Menschen begegnen, die affektiv recht neutral, ausgewogen oder schwach auf uns wirken, die haben wir dann sehr schnell wieder vergessen. Es sei denn, wir begegnen ihnen häufiger, vielleicht in der Uni oder bei der Arbeit.
Sind diese Ausschläge schwach, ist der andere einfach einer von vielen, die uns im Leben eben so begegnen. Bei anderen Menschen sind die Ausschläge heftiger. Diese Menschen sind uns sympathisch, wir bewundern sie, sie stoßen uns ab oder langweilen uns maßlos. Die Erinnerung an und die Phantasien über sie bleiben eher haften, je öfter wir ihnen begegnen. Die Affektforschung hat ergeben, dass optimale Beziehungen gemäßigt sind, das heißt, stabil und emotional verlässlich, mit einem eher breiten Spektrum an Affekten und Emotionen, die man miteinander leben und austauschen kann, die das Vertrauen und die Sicherheit geben, auch die Grenzbereiche des Lebens miteinander zu erkunden.
Aber optimal läuft es eben nicht immer und besonders brisant sind die sogenannten Spitzenaffekte, die mindestens einen der Beteiligten überfordern und die Beziehung zu ihm einerseits verzerren, andererseits aber auch intensivieren. Finden gelegentliche Begegnungen unter dem Einfluss von Spitzenaffekten statt, vor dem Hintergrund einer stabilen Psyche und das heißt aus Sicht der Objektbeziehungstheoretie: vor dem Hintergrund vieler normaler, stabiler, verlässlicher Beziehungen, so können auch gelegentliche Spitzenaffekte einigermaßen gut integriert werden. Brisant wird es, wenn verzerrte oder schwer pathologische Beziehungen, in denen Spitzenaffekte reichlich sind, häufig oder dauernd auftauchen, weil diese häufigen Spitzenaffekte, die Entwicklung normalgesunder Beziehungen deutlich behindern und irgendwann zerstören. Das führt zu dem, was man schwere Persönlichkeitsstörung nennt, oder bei einem einmaligen, sehr intensiven Erleben, das oft mit Lebensgefahr oder Todesangst assoziiert ist, zu einer Traumatisierung und in der Folge dann oft zu einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Spitzenaffekte brennen sich einfach mehr und tiefer in die Psyche ein, wie ein glühendes Eisen in die Haut. Und was brennt sich da genau ein? Ein Dreiklang: Ein Bild des Selbst, eines des anderen und in der Mitte verbindend und trennend, ein Affekt. Ein Affekt, der zum Beispiel Wut heißen kann: Trennend dadurch, dass der eine wütend ist und der andere der Adressat oder das Opfer der Wut. Nun kommt eine Stelle an der man aufpassen muss: Aus Sicht der Objektbeziehungstheorie wird nicht nur das Selbstbild integriert, sondern, der gesamte Komplex: das Selbstbild, das Bild des anderen und der Affekt in der Mitte (wie ihn das Selbst und der andere jeweils erleben).
Wer jetzt sagt: „Naja, und?“, hat im Grunde recht, denn die Brisanz dieser theoretischen Aussage erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Deshalb wollen wir sie erklären: Wenn wir ein Bild vom Selbst und unserem Empfinden, sowie vom anderen und dessen Empfinden integrieren, dann folgt daraus, dass beides in uns ist und im eigenen Blick auf die Beziehung zu diesem Menschen wohnt. Wenn ich täglich gequält und gedemütigt werde, ist in mir das Bild eines gequälten Opfers und eines lustvoll quälenden Sadisten. Und es ist sonnenklar, dass, wenn ich gequält werde, ich mich natürlich als das Opfer empfinde, was ich de facto ja auch bin. Das heißt, ich bin mit dem Bild des Opfers identifiziert, ich bin das Opfer, der andere der Täter, der Quälende, der Sadist. Der bin ich nicht. Und doch ist das Bild des anderen ebenfalls in mir.
Wenn Heilung wirklich die Angliederung oder Integration unbewusster Anteile ist – und das ist aus psychoanalytischer, psychodynamischer und tiefenpsychologischer Sicht, aus gutem Grund die Annahme – dann bringt es psychisch und psychotherapeutisch wenig, wenn ich ständig betone, dass ich ein armes Opfer bin. Denn psychologisch (nicht juristisch, faktisch oder lebenspraktisch!) bin ich ja bereits mit dem Bild des Opfers identifiziert. Es geschieht nichts Neues, wenn ich mich noch mehr als Opfer sehe, denn das tue ich ja bereits. Der Schatten, das Unbewusste ist es, was als das fundamental Neue und bisher Unbekannte integriert werden muss. Das mir tatsächlich Unbewusste ist der Täter. Sind seine Motive. Man kann es einfach nicht verstehen, wie ein Mensch anderen Menschen so etwas antun kann. Wie der Täter mir so etwas antun konnte. Das ist einem fremd, man selbst käme nie auf diese Idee, kann noch nicht mal im Ansatz nachempfinden, was solche kranken Menschen motiviert. Oder doch?
Gehen wir einen Schritt zurück. Wenn tatsächlich der gesamte Komplex von Selbstbild, Bild des anderen und der Affekt in der Mitte integriert wird, dann sind in jedem von uns die ganze Beziehung und beide Akteure und ihre Motive verinnerlicht. Ich finde demnach also auch den Anderen und seine Motive in mir. In den meisten Situationen ist das ohne Brisanz. Wenn wir eine alte Freundin wieder treffen, die wir lange aus den Augen verloren haben, spontan in ein Café gehen und uns über die letzten Jahren unterhalten, dann erleben wir zum einen unser eigenes Gefühl. Eine Mischung aus freudiger Neugierde, Sympathie, Überraschung und dergleichen. Wir erkennen aber auch, wie sich die Freundin fühlt. Dass sie ebenso freudig überrascht ist, wir erkennen, wo sie vielleicht immer noch ganz die Alte ist, auch wo sie irgendwie verändert wirkt. Traurig oder inzwischen etwas abgehoben, vielleicht gereift und selbstbewusster, abwesend und zerstreut, wir spüren was im anderen los ist, wie in etwa seine Gefühle sind. Was wir an ihr wahrnehmen ist aber immer unsere Interpretation.